Der Virologe Prof. Christian Drosten und die Virologin Prof. Sandra Ciesek (Montage) © picture alliance/dpa, Universitätsklinikum Frankfurt Foto: Christophe Gateau,

Drosten und Ciesek: Das Virus hat uns immer wieder überrascht

Stand: 29.03.2022 16:49 Uhr

In der letzten regulären Folge des Coronavirus-Update empfehlen die Virologen Christian Drosten und Sandra Ciesek künftig "asiatische Höflichkeit" beim Masketragen. Im April geht es im NDR Info Podcast mit Sonderfolgen weiter.

von Ines Bellinger

113 Podcast-Folgen, 135 Millionen Abrufe, mehr als 1.400 Skript-Seiten zum Nachlesen – das Coronavirus-Update von NDR Info ist in mehr als zwei Jahren zum Wegweiser durch die Pandemie geworden. Auch wenn der Podcast im April mit Sonderfolgen weitergehen wird - den vorerst letzten Auftritt der beiden Protagonisten Christian Drosten und Sandra Ciesek begleiten viele Hörerinnen und Hörer mit Dankbarkeit und ein wenig Wehmut. Für sie waren die Einschätzungen und Informationen der beiden Virologen "Leuchtfeuer in stürmischen Zeiten", "Sockel eines bodenständigen und sachlichen Umgangs mit der Pandemie" oder einfach nur "Beständigkeit" bei der Vermittlung von neuem Wissen.

Das Coronavirus © CDC on Unsplash Foto: CDC on Unsplash
AUDIO: Die neue Podcast-Folge: So Long (64 Min)

Die Pandemie ist noch nicht vorbei, doch für Drosten und Ciesek liegen inzwischen alle Werkzeuge zu deren Bewältigung auf dem Tisch. Die Wissenschaft hat geliefert, die "große Erzählung" über das neuartige Virus ist verstanden. Nun wollen sich der Leiter der Virologie an der Berliner Charité und die Direktorin der medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main wieder verstärkt ihren Forschungsfeldern widmen - nicht ohne nochmals ein wenig Orientierung zu geben über:

Die aktuelle Lage

Drosten: "Die Zahlen werden sicherlich bis zu den Osterferien oder ein, zwei Wochen danach noch hoch bleiben. Aber die Abmilderung der Krankheitsschwere bei Omikron und der Haupteffekt durch die Impfung lassen uns profitieren. Wir können sagen: Die Situation ist deutlich besser geworden, aber sie ist nicht komplett aufgelöst. Wir sehen, dass im Moment die Krankenhaus-Aufnahmen relativ linear ansteigen, gleichzeitig sehen wir eine Umverteilung in die älteren Altersgruppen. Das heißt, wir werden auch wieder mehr Intensivbetten voll haben und auch wieder mehr Todesfälle sehen in der nächsten Zeit, vielleicht bis etwa Mitte Mai."

Ciesek: "Wenn die Infektionszahlen stark ansteigen, ist es natürlich schlecht, wenn man gleichzeitig Maßnahmen aufhebt und das Infektionsgeschehen dadurch noch ankurbelt. Bei uns im Krankenhaus gibt es kaum noch Mitarbeiter, vor allem keine mit Schulkindern, die noch nicht infiziert waren oder gerade in Quarantäne oder Isolation sitzen. Das ist natürlich fatal für kritische Infrastruktur, wenn zu viele auf einmal ausfallen."

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Maske tragen - ja oder nein?

Drosten: "Alle Risikopatienten sollten unbedingt weiter Maske tragen - wenn es schon nicht alle anderen tun. Mit sinkender Inzidenz zum Sommer hin wird vielleicht eine Situation kommen, wo Alltagsentscheidungen jedem anheimgestellt werden. Vielleicht kommen wir dann tatsächlich zu einer asiatischen Höflichkeit - dass ich sowieso Maske trage, wenn ich Symptome habe, aber auch sonst in allen möglichen Sozialsituationen, aus Höflichkeit."

Ciesek: "Ich würde empfehlen, Maske überall dort zu tragen, wo es erforderlich ist: wenn es eng wird, in schlecht belüfteten Innenräumen, im öffentlichen Nahverkehr. Bei Veranstaltungen muss jeder für sich selbst entscheiden, wie wichtig es ihm ist, da schon wieder hinzugehen oder noch zu warten. Ich habe mal versucht zu überschlagen, wie viele Menschen sich in den letzten sechs Wochen in Deutschland wohl infiziert haben. Wenn man die Dunkelziffer einrechnet, ist es wahrscheinlich eine zweistellige Millionenzahl. Das spielt ja auch eine Rolle im Verhalten, wenn man gerade genesen ist und vielleicht wieder mehr machen kann."

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Die Evolution des Virus

Drosten: "Ich denke schon, dass sich das Virus weiterentwickeln wird. Omikron kommt jetzt nach China, das ist eine so große Bevölkerung. Ich denke nicht, dass es gelingen wird, das zu kontrollieren – und das schafft enorme Evolutionsmöglichkeiten für das Virus."

Den Übergang in die Endemie

Drosten: "Das geht nicht von heute auf morgen, das sind mehrere Stufen. Wir sind schon ein ganzes Stück drin in dem Prozess. Die Infektionssterblichkeit in Deutschland ist mit Impfung und unter Omikron auf etwa 0,1 Prozent gesunken, das ist relevant. Wir kommen da in Bereiche einer schweren Grippe-Saison. Aber: Bei der Influenza wird die Gesamtzahl nicht so groß, weil es nicht so viele Übertragungen gibt. Daher ist eine Infektionssterblichkeit von 0,1 Prozent auf die Gesamtzahl der Todesfälle gut tolerabel. Bei Covid-19 sind hingegen sehr viele Übertragungen zu erwarten und dann sind 0,1 Prozent Infektionssterblichkeit einfach nicht tolerabel.

Bei Influenza hat jeder x-mal im Leben eine Infektion durchgemacht, sodass eine Immunität auf der Schleimhaut besteht und zumindest Erwachsene nicht so infektiös sind. Dadurch läuft die Grippesaison von selbst aus. Bei SARS-CoV-2 haben wir immer noch eine Minderheit in der Bevölkerung, die einen Schleimhautvirus-Kontakt hinter sich hat, man braucht aber eine ganze Reihe von Infektionen, um eine Schleimhautimmunität und damit einen Übertragungsschutz aufzubauen. Die Infektionen, die jetzt über den Sommer stattfinden, werden dazu wahrscheinlich nicht ausreichen."

Den kommenden Herbst

Drosten: "Weil den meisten der Übertragungsschutz fehlt, wird es, wenn es kälter wird, wieder zu verstärkter Übertragung kommen. Dann würde der R-Wert wahrscheinlich wieder zwischen 2 und 3 landen, wenn man nichts machen würde. Man wird es nicht laufen lassen können im Herbst, das würde mich wundern. Vielleicht ist es aber der letzte Herbst, wo man so gegenbremsen muss."

Die größte Überraschung mit SARS-CoV-2

Drosten: "Mich haben die Varianten am meisten überrascht. In einer Zeit, in der solche Tools verfügbar waren für die Verfolgung der Verbreitung und die Charakterisierung eines Virus, hat noch kein Virologe eine Pandemie von diesem Ausmaß erlebt. Wir sind alle total verblüfft darüber, wie schnell das Virus sich verändert - wie es sich anfangs ohne Immunflucht verändert hat, wie jetzt die Immunflucht dazukommt. Es ist eigentlich eine dauerhafte Verblüffung da."

Ciesek: "Mir geht es ähnlich, vor allem weil in den Virologie-Lehrbüchern steht, dass sich Coronaviren eigentlich nicht so schnell verändern. Dass es doch so schnell ging und unterschiedliche Varianten einander abgelöst haben, finde ich immer noch überraschend."

Fallstricke bei Quellen und Informationen

Ciesek: "Als Laie würde ich da immer auf den Wissenschaftsjournalisten meines Vertrauens setzen. Zur Orientierung kann man sagen: Wenn eine einzelne Studie den Wissensstand revolutioniert, weil sie genau das Gegenteil sagt, dann muss man sich das methodisch sehr genau anschauen. Eine Studie ist immer nur ein Puzzleteil und nicht die komplette Wahrheit. Um zum Beispiel Laborstudien zu verstehen, muss man die Methoden kennen und deren Schwächen. Für Laien ist das schwer einzuschätzen.

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Bei Patientenstudien gibt es schon Richtlinien, an denen man die Qualität erkennen kann. Bei Medikamentenstudien zum Beispiel ist der Goldstandard, dass es randomisierte, kontrollierte Untersuchungen sind. Also: Gab es eine Kontrollgruppe? Wurden die Patienten zufällig ausgewählt? War die Behandlung verblindet - also wusste der Arzt nicht, welche Gruppe ein Medikament bekam und welche ein Placebo? War die Diagnose sicher, zum Beispiel bei SARS-CoV-2 durch eine PCR bestätigt? Wie groß war die Kohorte? Welche Altersgruppen waren einbezogen – Männer und Frauen? Wie lange dauerte die Nachbeobachtung? Ist der Endpunkt der Studie relevant? Und man muss sich immer fragen: Ist das auf die Realität übertragbar?"

Ihre weitere Forschungsarbeit

Drosten: "Wir befassen uns hier am Institut stärker mit dem Virus als mit der breiten Bevölkerungsimmunität. Was wir zum Beispiel immer noch nicht ganz verstehen: Warum eigentlich die Alpha-Variante des Coronavirus so viel stärker übertragbar war. Bei Delta gibt es Hinweise. Bei Alpha ist es molekular-virologisch immer noch schwierig, das zu verstehen. Und wir arbeiten an sehr speziellen Fragestellungen: Wie können wir die Virulenz zirkulierender Virusvarianten besser einschätzen? Wie geht die antigenetische Drift weiter? Das passiert nicht nur für SARS-2, auch für MERS-Coronaviren zum Beispiel."

Ciesek: "Wir bearbeiten in unserem Labor unter anderem die Frage: Warum verläuft Omikron in Patienten anders als Delta? Zuletzt haben wir auch Immunantworten älterer Menschen untersucht. Und wir suchen ständig nach Angriffspunkten, die uns das Virus bietet, um Wirtsfaktoren zu identifizieren oder neue Medikamente zu finden. SARS-CoV-2 wird ein Schwerpunkt bleiben in den nächsten Jahren. Aber wir machen auch viel projektgebundene Drittmittel-Forschung zu Hepatitis-Viren zum Beispiel."

Erwartete Studien und Daten

Drosten: "Das nächste Wichtige, was kommen wird, sind Daten zur Wirksamkeit der Omikron-angepassten Impfstoffe. Im Moment sieht man da gar nicht so einen großen Zusatznutzen im Vergleich mit der herkömmlichen Booster-Impfung. Aber diese sehr vorläufigen Daten stammen aus einer Studie mit Rhesusaffen. Das sind kleine Tiere, die Erwachsenen-Dosen bekommen haben, zum Teil mit sehr kurzen Wartezeiten zwischen den Impfungen. Das kann im Menschen ganz anders aussehen. Da laufen Studien, die in den nächsten Monaten veröffentlicht werden. Darauf bin ich wirklich sehr gespannt. Und natürlich warten alle mit Spannung darauf, dass Daten zu den ersten Lebendvakzin-Studien rauskommen. Das wird aber noch viel länger dauern."

Ciesek: "Die Immunitätsdauer wird uns weiter beschäftigen: Wie häufig muss sich jemand nachimpfen oder wird das irgendwann gar nicht mehr der Fall sein? Was ich gern sehen würde, sind wissenschaftliche Erkenntnisse über Long Covid: Wie häufig ist das? Wie ist der Pathomechanismus? Gibt es einen möglichen Therapieansatz? Ich hoffe, dass dazu noch viele Arbeiten kommen."

Ihre Rolle in der Öffentlichkeit

Drosten: "Im Moment habe ich das Gefühl, dass es sich wieder normalisiert - und das ist auch gut so. Zwischendurch war es so, dass man auf offener Straße zum Teil sehr unangenehm angegangen wurde. Aber ich glaube, die Öffentlichkeit hat ein ziemlich kurzes Gedächtnis. Und mit dem anderen großen Thema, das jetzt in den Nachrichten ist, tritt nicht nur das Corona-Thema in den Hintergrund, sondern wahrscheinlich auch diese Präsenz, die man im Bewusstsein der Bevölkerung hat. Ich glaube, das ist nie gut, wenn eine einzelne Person für ein Thema so identifiziert wird, weil es auch nicht der Realität entspricht."

Ciesek: "Bei mir war es lange nicht so extrem. Aber insgesamt habe ich mich schon gewundert, wie viele es dann doch falsch verstehen, wenn man denkt, man hat einen klaren Satz gesagt. Zum Teil hatte man das Gefühl, man möchte auch missverstanden werden."

Drosten: "Das habe ich auch so wahrgenommen. Während man irgendwie versucht, in die Tiefe vorzudringen bei der Materie, gibt es doch einzelne Personen oder einzelne Medien, die eigentlich nur aufs Wasser klatschen wollen, um möglichst viele Leute nasszuspritzen. Die haben gar kein Interesse daran, was in der Tiefe ist."

Hinweis in eigener Sache

Als Gesprächspartner bei wichtigen aktuellen Entwicklungen bleiben Sandra Ciesek und Christian Drosten der Wissenschaftsredaktion von NDR Info auch künftig erhalten. Und der Corona-Podcast wird mit Sonderfolgen erst einmal weitergeführt. Am 12. April geht es um Long Covid. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité, spricht über ihre Erfahrungen mit Patienten, die an Corona-Langzeitfolgen leiden.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 29.03.2022 | 17:00 Uhr

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