Komponistin Olga Neuwirth © picture alliance/dpa/Universal | Universal Foto: picture alliance/dpa/Universal | Universal

Olga Neuwirth erhält Ernst-von-Siemens Musikpreis 2022

Stand: 02.06.2022 11:55 Uhr

Der mit 250.000 Euro dotierte Ernst-von-Siemens Musikpreis geht 2022 an die österreichische Komponistin Olga Neuwirth. Sie hat die Auszeichnung in München erhalten. Ihr musikalisches Markenzeichen: das Unberechenbare.

von Margarete Zander

Olga Neuwirth wurde für ihr Lebenswerk im Dienste der Musik bei einem musikalischen Festakt im Münchner Prinzregententheater geehrt. Die aus Graz stammende Komponistin Olga Neuwirth wird international in den Konzerthäusern gefeiert. Die Schriftstellerin Raphaela Edelbauer wird die Laudatio halten.

Olga Neuwirth: Seit 2021 Professorin an der Musikhochschule in Wien

Die Musikstiftung würdigte Neuwirth als eine Künstlerin, die mit ihrer Musik radikal neue Wege einschlage und der zeitgenössischen Musik ein neues Gesicht verleihe. "Neuwirths einzigartige, alle Genregrenzen überschreitende Klangsprache geht ganz wesentlich auf ihre schonungslose Offenheit gegenüber anderen Kunstformen zurück" heißt es. Sie nehme Impulse und Techniken aus Film und Videokunst, Literatur, Bildende Kunst und Wissenschaft auf. Neuwirth spreche sich außerdem öffentlich für Toleranz, Offenheit und Gleichberechtigung aus.

2010 bekam sie als erste Frau den Großen Österreichischen Staatspreis für Musik. Seit 2021 hat sie eine Professur an der Musikhochschule in Wien inne. Lange galt sie als Enfant terrible, sie setzt sich gegen rechts ein und macht sich für die Rechte von Frauen stark.

Olga Neuwirth: "Ich fühl' mich wie ein Salatblatt im Burger"

Mit Bildern wie "Ich fühl' mich wie ein Salatblatt im Burger" hat Olga Neuwirth unermüdlich flächengreifende Diskussionen über die Ungleichbehandlung von Frauen im Musikbetrieb angezettelt. Sie überwindet Grenzen und sprengt die klassischen Präsentationsformen: Sie filmt das Publikum beim Betrachten ihrer Klanginstallationen und integriert diese Videos in die Konzertperformance, fotografiert, schreibt Bücher und Drehbücher und produziert Filme. Ihre Klang-Film-Installation "Miramondo multiplo" war auf der documenta 12 in Kassel zu sehen.

Auf dem Weg zur Jazz-Trompeterin

Den Mut zur Grenzenlosigkeit hat Olga Neuwirth früh entwickelt. Mit sieben Jahren griff sie zur Trompete und wollte spielen wie Miles Davis: "Ich komme aus einem Jazz-Haushalt", erzählt Neuwirth. "Er ist mir immer sofort aufgefallen, dieser sehr emotionale Trompetenklang von Miles Davis. Und diese rote Trompete, die er lange hatte - da habe ich mir gedacht: Das möchte ich auch!"

Olga Neuwirth wird 1968 in Graz geboren. Der Vater war Jazz-Pianist, die Mutter verkehrte in Schriftstellerkreisen der Wiener Gruppe. "Man lief einfach in die Wälder. Es gab keine Aufsicht und nichts", sagt Neuwirth. "Es gab unglaublich viele Jazz-Musiker aus allen möglichen Ländern und Schriftsteller mit allen ihren verschiedenen Ansichten und Versuchen, die Wirklichkeit zu beschreiben. Ihre Lebensweisen - das war natürlich wie ein Kompendium. Andererseits gab es auch die Fragen: Wer bin ich und was will ich überhaupt? Weil alles möglich war. Das war ein Fantasieraum, den man einfach erschlossen hat, und das ist wunderbar."

Durch einen Kieferbruch zur Komponistin

Ein Kieferbruch durch einen Autounfall beendete früh ihre Trompetenkarriere, doch ein Ferienkurs brachte der 16-Jährigen neue Perspektiven: "Als Jelinek in dieses Kaff in der Südsteiermark für die Workshops mit Hans Werner Henze kam, habe ich natürlich sofort die Bücher gelesen. Für mich war das, wie wenn man vom Blitz getroffen wird, weil man sagt: Das ist genau das, was mich interessiert."

Ein Schlüsselmoment ihres Lebens: Der volle wilde Wohlklang der Musik von Hans Werner Henze hat sie so begeistert, dass sie viele Handwerke beherrschen wollte. Sie studierte Komponieren, Film und Malerei in San Francisco und Wien, Elektronik am Pariser IRCAM, dem Forschungsinstitut für Akustik und Musik, und öffnete für ihre Generation genreübergreifende neue Spielräume. Mit Elfriede Jelinek entwickelte sich eine kämpferisch-produktive Künstlerfreundschaft: "Ich brauche einen großen Raum, in dem ich wühlen kann, und manchmal wird er auch von Wut bestimmt", erzählt Neuwirth. "Das sind politisch-soziale Probleme, weil ich immer schon viel gelesen habe und mich über sozialpolitische Probleme sehr aufregen kann. Es ist ein Teil von mir und deshalb ist es auch ein Teil meiner Kunst."

Über musikalische Grenzen hinweg

In ihrer jüngsten musikalischen Biografie "Orlando" nach dem Roman von Virginia Woolf findet Olga Neuwirth androgyne Klänge für die Transgender-Figur. Sie übermalt dabei musikalische Welten von barocker Cembalomusik bis Klaus Nomi, von Gustav Mahler bis Disco, von Henry Purcell bis Freddy Mercury. Dazwischen schiebt sie mit harten Schnitten Punk und Vogelgezwitscher. Und mit übermächtigen, raumgreifenden Filmen und zum Teil lautstarken akustischen Überfällen schafft Olga Neuwirth Abenteuer für die Konzertsäle.

So auch in "The Outcast" nach Herman Melvilles "Moby Dick", einem packenden Melodram gegen Intoleranz und Hass. Vorbild für die kunstvolle akustische Verführung ist Venedig, sagt die Komponistin: "Die Glocken läuten immer. Und das Phänomen, dass sich der Klang verändert, wenn man aus einer anderen Richtung kommt oder man sich ihnen nähert - das sind rein akustische Phänomene, die mich an Venedig immer unglaublich fasziniert haben. Die Glocken waren damals ein Kommunikationsmittel, wie heute Twitter." Das Unberechenbare bleibt ihr Markenzeichen: "Das heißt, eine fluid identity, eine liquid architecture", erzählt Neuwirth. "Es geht bei mir immer um dieses ständige Zerfallen, nichts ist fix."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 02.06.2022 | 16:00 Uhr

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