Junge steht auf Büchern vor einem Sonnenuntergang (Collage) © IMAGO / imagebroker

Zum Atomausstieg: Die Kernenergie in der Literatur

Stand: 14.04.2023 14:02 Uhr

Am 15. April werden die letzten Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. Seit Jahrzehnten polarisiert das Thema Kernenergie. Kein Wunder, dass es auch in der Literatur verhandelt wird.

von Juliane Bergmann

Wer lebt schon gern Tür an Tür mit einem Kernkraftwerk? Einsame Orte sind das, fast poetisch.

Ich wollte dir noch sagen,
dass ich es schön fand wie
wir beide ganz weit raus fuhren aufs Land,
wo keiner mehr wohnen will
wegen der Atomkraftwerke.

Diese Zeilen schreibt Victoria Helene Bergemann. Das Atomkraftwerk als diffuses Versprechen von Unheil. Ein Setting, ideal für nachdenkliche, dunkle, auch kämpferische Literatur. Mit ihrem melancholischen Gedicht "Dass ich Apfelsaft mag" gewinnt die aus Reinbek stammende Autorin Bergemann den Bundeswettbewerb für junge Dichter "Lyrix" 2015.

"Die Wolke": Beklemmung prägt eine ganze Generationen

Ein paar Jahre zuvor, 2011, hat der Nuklearunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima die reale atomare Bedrohung wieder stärker in unser Bewusstsein gerückt. Was passiert, wenn die Katastrophe eintritt, davon haben viele in den End-80ern und 90ern bereits in der Schule gelesen:

Sie lag im Schulkinder-Saal, zusammen mit fünfundzwanzig anderen kranken oder verletzten Kindern, herbeigekarrt aus der ganzen Umgebung. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, erschrak sie jedes Mal. Wer sah sie da an? Eingefallene Augen, spitzes Kinn, blasse Haut, stumpfes, struppiges Haar. Man hielt ihr den Kopf hoch und setzte ihr den Becher an die aufgesprungenen Lippen.

Die Schülerin Janna-Berta erlebt das bis dahin Undenkbare: einen Reaktorunfall mitten in Deutschland. 1987, ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe im gar nicht so weit entfernten Tschernobyl, gibt Gudrun Pausewang in ihrem Jugendroman "Die Wolke" der unsichtbaren Angst, die gerade alle bewegt, eine Stimme. Die Beklemmung kann ganze Generationen prägen.

Atomenergie passt zu dystopischer Literatur

Verstummte, verstörte Jugendliche bleiben auch zurück in Helene Hegemanns Gegenwartsroman "Bungalow" von 2018.

Dann der Knall. Und Qualm und ein Feuerball, der sich über den Bungalows nach oben hin irgendwie pilzförmig ausweitet, Scheiße, Atomkrieg, denke ich sofort, darüber hat Iskender mal ein Referat in der Grundschule gehalten. Ich knie auf dem Boden.

Ein Danach - kaum vorstellbar. Letztlich wird Hegemanns junge Heldin Charlie zur Masochistin. Atomenergie hat etwas Bedrohliches. Sie passt deshalb gut zu dystopischer Literatur. Man kann sie aber auch als beachtlichen Forschungserfolg betrachten, als Meilenstein. Seit den 50er-Jahren lässt sich mit atomaren Kraftwerken elektrischer Strom erzeugen.

Unglück und Glück der Wissenschaft

Die Französin Élisabeth Filhol stellt in ihrem Roman "Der Reaktor" die Menschen in den Mittelpunkt, die dort arbeiten. "Was dort drüben im Herzen des Kraftwerks vor sich geht, wird noch andere nach dir faszinieren“, so beschreibt einer seine ambivalente Hingabe für den Job.

Die eigentliche Antriebskraft ist, diesen Punkt zu erreichen, auf den sich bei aller Zwiespältigkeit das ganze Verlangen konzentriert, diesen zentralen Punkt, an dem alles seinen Anfang nimmt, von dem die ganze primäre Energie ausgeht. Ihm möglichst nahekommen, seinen Atem spüren. So groß ist seine Macht.

Was aber ist mit der Sicherheit? Der ökologischen Verantwortung? Der Entsorgung des gefährlichen Atommülls?
"Treiben die Utopien unserer Zeit notwendig Monster heraus?" fragt die Erzählerin in Christa Wolfs Buch "Störfall". Parallel zum Reaktorunfall Tschernobyl bangt sie um das Leben ihres Bruders, der eine komplizierte Gehirnoperation durchmachen muss. Nebeneinander stehen hier: Unglück und Glück der Wissenschaft.

Was macht Atomenergie eigentlich mit uns?

Atomkraft formt zwei Lager. Die stellt Christoph Peters 2020 in seinem "Dorfroman" gegenüber. Angelehnt an reale Konflikte in seinem Heimatdorf Kalkar, wo nach massivem Widerstand gegen den Bau eines Kernkraftwerks heute eine riesige Investitionsruine steht. Der Ich-Erzähler überlegt: Was wäre, wenn der Brüter an den Start gegangen wäre?

Vielleicht wäre Radioaktivität in der Milch, im Fleisch, den Zuckerrüben nachweisbar gewesen, embryonale Fehlbildungen, Gendefekte, Leukämie-Erkrankungen hätten sich in statistisch relevanter Zahl gehäuft. Welche Konsequenzen wären daraus gezogen worden? Von der Politik, der Landwirtschaft, den Energiekonzernen, den Bewohnern des Dorfes?

Während derzeit über Deutschlands Ausstieg aus der Atomkraft diskutiert wird, stellen diese literarischen Beispiele anschaulich die Frage: Was macht Atomenergie eigentlich mit uns?

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 05.08.2022 | 17:20 Uhr

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