Historiker zu 80 Jahren Kriegsende: "Wissen ist wichtiger denn je"
Heute vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige Kapitulation Deutschlands - und damit auch die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Welche Lehren ziehen wir daraus?
Der Historiker Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München und forscht schon seit Jahrzehnten zum Nationalsozialismus. Im Interview auf NDR Info warnt er davor, die Lehren aus der Geschichte zu ignorieren und historische Fakten umzudeuten - dies schade unserer Gesellschaft.
Herr Brechtken, wie anfällig sind wir heute für Geschichtsrevisionismus?
Magnus Brechtken: Das wird sich zeigen. Aber das, was jetzt 80 Jahre zurückliegt, ist aus dem Gedächtnis vieler verschwunden. Nur an solchen Tagen wie heute wird sich wieder daran erinnert. Im Alltag hat die Erinnerung für die meisten Menschen nur noch sehr wenig Bedeutung. Man besucht vielleicht ein Museum oder auch mal eine KZ-Gedenkstätte. Aber in der Regel hat man nur noch sehr wenig mit dieser Zeit zu tun.
Viele Deutsche halten sich 80 Jahre nach Kriegsende zugute, dass vieles aufgearbeitet wurde und sie keine direkte Verantwortung tragen. Ist aber vor dem Hintergrund, dass auch die Zeitzeugen immer weniger werden, das Erinnern nicht wichtiger denn je?
Brechtken: Das Wissen ist wichtiger denn je. Und dass man sich klarmacht, was es bedeutet, in einer Gesellschaft wie vor dem 8. Mai 1945 gelebt und gehandelt zu haben. Dieser Tag ist ja der Endpunkt einer längeren Geschichte. Hierfür muss man den 1. September 1939, den Beginn des Zweiten Weltkrieges, und den 30. Januar 1933, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, mitdenken. Diese drei Daten gehören in der Summe zusammen.
Dann ist man auch bei der Herausforderung für die Gegenwart, sich klarzumachen, dass alle Entscheidungen, die man heute im Alltag trifft, damit zu tun haben, was aus unserer Gesellschaft wird. Wir müssen uns heute jeden Tag neu dafür entscheiden, dass wir in einer demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft leben möchten, damit eine solche Entwicklung wie nach 1933 in Deutschland nicht noch einmal vorkommt.
In Deutschland ist die AfD bei der Bundestagswahl zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen. Erkennen Sie im Auftreten dieser Partei Muster aus der Vergangenheit?
Brechtken: Die AfD versucht, bestimmte Fakten aus der Vergangenheit umzudeuten in einem Sinne, die der Gesellschaft schaden, in der wir heute leben. Im Grunde ist das eine anti-deutsche Partei, weil der gesamte Erfolg, den die Bundesrepublik seit ihrer Gründung hatte, darauf basiert, dass wir eine offene und demokratische Gesellschaft sind. Dass es eine Gewaltenteilung gibt, dass man sich selbst kritisch hinterfragt, ob man das, was man tut, mit den Werten vereinbaren kann, die für die gesamte Gesellschaft gelten. Das ist das Gegenteil davon so zu tun, als sei man etwas Besonderes. Oder als habe man überhaupt keine Verantwortung für die eigene Geschichte.
Selbstverständlich haben Menschen, die heute leben, keine Schuld an dem, was vor 1945 passiert ist. Aber man muss sich erinnern, dass das eben eine brutale Diktatur war, in der Millionen von Menschen verfolgt und ermordet wurden, darunter auch viele Hunderttausend Deutsche. Und daran haben sich Millionen von Deutschen beteiligt. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen von uns, dass wir die Gesellschaft, in der wir leben möchten, auch offen, frei und rechtsstaatlich erhalten.
Wenn wir heute an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern, dann kommen wir nicht umhin, auf den Krieg in der Ukraine zu schauen und uns die Frage zu stellen, wie dieser beendet werden kann.
Brechtken: Auf jeden Fall hat sich gezeigt, dass der Nationalsozialismus nur von außen besiegt werden konnte. Den Deutschen ist es damals nicht gelungen, die nationalsozialistische Herrschaft abzulegen, weil sie in ihrer Mehrheit selbst für den Nationalsozialismus waren. Dass man ein Regime, das diktatorisch geführt wird und in dem Millionen von Menschen keine Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern, nur von außen besiegen kann, lernen wir auch im Ukraine-Krieg. Man muss der russischen Aggression, dem Diktator Putin und dem russischen, autokratischen Hegemonialstreben genauso aktiv entgegentreten, wie man seinerzeit Adolf Hitler und anderen autoritären Systemen mit ihrer Aggression entgegengetreten ist.
Ist dieser Jahrestag heute eine gute Gelegenheit, mehr daraus zu machen als einen Pflichttermin und ein ritualisiertes Gedenken?
Brechtken: Das würde man sich als Historiker auf jeden Fall wünschen. Wir versuchen, in die Gesellschaft zu tragen, dass Geschichte nicht aus Erinnerungspunkten und Ritualen besteht. Jeder Einzelne sollte sich seiner Rolle in unserer Gesellschaft bewusst sein und welchen Beitrag er leisten kann, dass diese auch im eigenen Sinne stabil bleibt. Zivilgesellschaftliches Engagement ist daher eigentlich die zentrale Lehre aus der Geschichte.
Das Gespräch führte NDR Info-Moderatorin Liane Koßmann.
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