Lasse Lais mit seiner Physiotherapeutin Karin Kruska © NDR Foto: Julia Schwenzer

Vernetzte Hilfe: Ganzheitliche Unterstützung für Kinder mit Behinderungen

Stand: 08.07.2022 05:00 Uhr

Kinder mit Behinderungen brauchen sehr viel Unterstützung aus verschiedenen Bereichen. Der Verein für Kindesentwicklung vernetzt Spezialisten und hilft so den Familien ganzheitlich.

von Vera Vester

Es waren nur drei Monate - und doch haben sie sein ganzes Leben verändert, noch bevor es angefangen hat. Weil es nicht irgendwelche Monate waren: Es waren genau die drei Monate, in denen Lunge und Gehirn weiter gereift, der Fötus noch gewachsen wäre. Lasse hatte diese drei Monate im Mutterleib nicht, er kam als extremes Frühchen zur Welt. Die Ärzte räumten ihm kaum Überlebenschancen ein. Heute ist er sieben und baut eine Photovoltaik-Anlage auf das Dach des Kronshagener Rathauses - zumindest spielt er das nach mit den bunten Schaumstoff-Matratzen und seinem Kinderwerkzeug.

Seine Gedanken schlagen Salto

Lasse Lais ist drei Monate zu früh zur Welt gekommen. © NDR
Lasse hat von Geburt an körperliche und geistige Behinderungen.

Wer Lasses Geschichte hört und ihn dann zum ersten Mal sieht, kann eigentlich nur von einer Verwechslung ausgehen: Wenn er einen so frech angrinst in seinem blau-weiß gestreiften Hemd, den kurzen blonden Haaren, den strahlenden Augen hinter der Brille. Zugegeben, er ist schmächtiger als andere Siebenjährige, seine motorischen Fähigkeiten deutlich eingeschränkt und seine Gedanken scheinen manchmal Salto zu schlagen.

"Er ist nicht der kleine König"

"Ohne unsere Familie, meinen Mann, meine beiden Töchter, wäre Lasse nicht so geworden, wie er heute ist. Er ist dabei nicht der kleine König, sondern einer von uns, von unserem Fünfer-Team", sagt seine Mutter Dörte. Familie Lais war aber bei Weitem nicht auf sich allein gestellt, um Lasse zu unterstützen. Die ersten drei Monate nach der Entbindung war Lasse im Krankenhaus, musste intensiv versorgt werden. "Schon da hat man uns gesagt, dass wir auch in Zukunft sehr viel Hilfe brauchen werden. Wir haben dann früh mit Physiotherapie angefangen - aber es war schnell klar, dass wir ein ganzes Dorf an Menschen brauchen, die helfen."

Alles im Sinne des Kindes

Karin Kruska, Verein für Kindesentwicklung © NDR
Karin Kruska ist Physiotherapeutin und hat vor 30 Jahren den Verein für Kindesentwicklung mitgegründet.

Und da war es pures Glück, dass die Physiotherapeutin, die ihnen empfohlen wurde, die Mitgründerin des Vereins für Kindesentwicklung ist. Karin Kruska übt ihren eigentlichen Beruf seit 45 Jahren aus. 1992 dann hatten sie und eine Kollegin den Gedanken, dass man die Kinder, die in ihre Praxis kommen, eigentlich noch ganz anders unterstützen müsste. "Wir haben festgestellt, dass wir so viele Kinder mit Beeinträchtigungen behandeln, wo viele Ärzte, Therapeuten, Pädagogen, Psychologen am Werk sind und wir alle gar nicht voneinander wissen, was wir eigentlich mit dem Kind machen", erinnert sie sich und fügt an: "Da haben wir uns überlegt, dass das so nicht weitergehen kann - im Sinne des Kindes."

Verein für Kindesentwicklung vernetzt

Also fingen sie an, sich untereinander zu vernetzen. Seither setzen sich die Spezialisten der unterschiedlichen Bereiche regelmäßig zusammen und erstellen gemeinsam einen Behandlungsplan für das jeweilige Kind. Ursprünglich war angedacht, eine Art Zentrum zu gründen, hauptberuflich vernetzt zu arbeiten, in angemieteten Räumen. Allein aus finanziellen Gründen war das aber nicht realisierbar. An der Idee wollten sie alle trotzdem festhalten und arbeiten deshalb für den Verein Kindesentwicklung ehrenamtlich. Der Verein finanziert sich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Etwa 100 Mitglieder hat der Verein: Fachärzte, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Rehatechniker und Psychologen sind dabei. "Wenn wir zusammensitzen, uns austauschen und beraten, ist das für jeden von uns auch immer wie eine kleine Fortbildung. Wir lernen sehr viel dabei", sagt Karin Kruska.

Verein als Sprachrohr

Dörte Lais © NDR
"Lasse ist so, wie er jetzt ist, weil die ganze Familie mitgeholfen hat", sagt Mutter Dörte Lais.

Vor allem aber sei die umfassende Unterstützung für die Familien von Vorteil. Sie seien mutiger anzusprechen, wenn mal der Schuh drückt, sie könnten Einzelne im Verein als Sprachrohr nutzen, wenn sie nicht wüssten, wie sie Fachleuten gegenüber bestimmte Dinge formulieren, meint Karin Kruska. All das weiß Familie Lais sehr zu schätzen: "Ohne den Verein müssten wir als Laien so viele Entscheidungen alleine treffen. Zum Beispiel wann es sinnvoll ist, Lasse nochmal zu operieren", sagte sie. Lasse hat zum Beispiel einen Rollator und einen Rollstuhl für längere Strecken, er braucht Orthesen. "Wir haben durch den Verein einen Rehatechniker an unserer Seite. Insgesamt haben wir immer viele Fragen, können die weitergeben und sie werden im Team besprochen - das ist eine große Erleichterung", schätzt Dörte Lais die Hilfen sehr.

Hilfe für die ganze Familie

Ein weiterer wichtiger Punkt: Der Verein hat immer die gesamte Familie im Blick, also auch die Eltern und Geschwisterkinder, die oftmals zu kurz kämen. Regelmäßig gibt es Familienverwöhntage. "Die Eltern haben so viele Sorgen, so viele Arzt- und andere Termine, dass einfach die Zuwendung für die anderen Kinder ein bisschen leidet. Das ist kein böser Wille, das passiert einfach so. Im Team machen wir das den Eltern dann auch mal bewusst und das hilft allen Seiten", sagt Karin Kruska.

Für die Familien ist ein Kind mit Beeinträchtigung immer eine zusätzliche Herausforderung. Das war auch Lasses Mutter schnell klar: "Wenn man davon ausgeht, dass man ein Kind bekommt, richtet man sich ja schon auch darauf ein. Aber wenn es unter solch dramatischen Umständen zur Welt kommt, ändert das alles - auch die Sichtweise auf die Welt und die Wertigkeit des Lebens", berichtet sie und erzählt, dass das ihre Familie maßgeblich verändert hat: "Jetzt würde ich sagen zum Positiven, aber das sage ich auch erst jetzt nach sieben Jahren." Im Sommer steht die nächste Veränderung an: Lasse kommt in die Schule. Die Unterstützung durch den Verein bleibt.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 08.07.2022 | 19:30 Uhr

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Kinderbetreuung

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