Untersuchung über Pastoren in der NS-Zeit: "Ein Meilenstein"
Helge-Fabien Hertz hat in einer Studie aufgedeckt, dass die Mehrheit der 729 Pastoren der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins im Dritten Reich Nazis waren. Sein Doktorvater spricht von einem "Meilenstein der Kirchengeschichtsforschung in Deutschland".
In der Nazi-Zeit hat die Mehrzahl der schleswig-holsteinischen Pastoren mit den nationalsozialistischen Machthabern sympathisiert, im Sinne der NS-Ideologie mit ihnen zusammengearbeitet und damit das Regime unterstützt. Das zeigt die Arbeit eines jungen Historikers von der Christian-Albrechts-Universität (CAU) in Kiel. Mit seiner Dissertation gibt es jetzt zum ersten Mal eine Untersuchung darüber, welche Rolle jeder einzelne der 729 Pastoren der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins im Dritten Reich gespielt hat. Eine Online-Datenbank listet alle Informationen auf. Auch ein E-Book soll demnächst verfügbar sein.
"Transparent mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen"
Fünf Jahre lang hat Dr. Helge-Fabien Hertz geforscht und alle ihm verfügbaren Quellen systematisch auf NS-Ideologie hin ausgewertet. Bis dahin hatte es keine derartige Untersuchung gegeben. Bei Professor Rainer Hering an der CAU Kiel war der 32 Jahre alte Forscher zum ersten Mal mit dem Thema "Kirche und Antisemitismus in Norddeutschland" konfrontiert worden.
"Das war für mich sehr überraschend und neu", sagt Hertz. "Und dann bin ich tiefer eingestiegen in das Thema." Für seine Masterarbeit hatte er bereits 100 Pastoren untersucht. Ihm sei wichtig, "dass man sich transparent mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzt, weil wir in einer Übergangszeit leben, wo es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird."
Die gesamte Pastorenschaft und ihre Haltung zum NS-Staat
Hertz hat 680 Personalakten, 1.300 Bände, mehr als 1.000 Predigten, Konfirmanden-Stunden, 350 Entnazifizierungsakten und teilweise auch Dokumente aus Gemeindearchiven gelesen und nach den entscheidenden Informationen durchsucht. Dabei hat er die Fragestellung bewusst weit gefasst: Wie haben sich die Pastoren zum Nationalsozialismus positioniert? "Ich wollte wirklich einmal alles komplett untersuchen", sagt Hertz.
Es gab nur wenige Berufsgruppen, die der NSDAP nicht beitreten mussten, um berufliche Vorteile zu haben. Da gehören Pastoren dazu. Deshalb sind NSDAP-Mitgliedschaften besonders aussagekräftig. Historiker Helge-Fabien Hertz
Er hat nach Mitgliedschaften in NS-Organisationen geschaut - Partei, SA, SS oder anderen NS-Organisationen. Gerade die Mitgliedschaft in der NSDAP war für den Historiker eine wichtige Kategorie, denn "es gab nur wenige Berufsgruppen, die nicht beitreten mussten, um berufliche Vorteile zu haben. Und da gehören Pastoren dazu. Deshalb sind NSDAP-Mitgliedschaften besonders aussagekräftig", so der Historiker.
Landeskirchenarchiv offenbart sich als große Quelle
Die Recherche sei natürlich nicht ganz einfach gewesen, so Hertz. Wichtig sei, "dass die Quellenlage bei einer so großen Untersuchungsgruppe möglichst gleichmäßig ist, damit die Pastoren am Ende auch vergleichbar sind", so Hertz. Gerade deshalb waren für ihn die Personalakten aus dem Landeskirchenarchiv in Kiel besonders wichtig.
Die Akten konnte er zu fast allen 729 Pastoren finden und auswerten. In diesen Personalakten liegen auch Predigten und Vorbereitungen für Konfirmanden-Stunden. Sie hat er genutzt, um etwas über die innere Haltung der Pastoren zu erfahren.
Helge-Fabien Hertz entwickelt 122 Analyse-Kriterien
"Um das Handeln der gesamten Pastorenschaft auswerten zu können, braucht man Kriterien, nach denen man suchen kann", sagt Hertz. Am Anfang sei er mit null Kriterien gestartet. Manche hätten dann auf der Hand gelegen, sagt er: NSDAP-Mitgliedschaft, Antisemitismus, Eintreten gegen Antisemitismus und so weiter.
Nach und nach kamen immer mehr NS-bezogene Handlungstypen dazu: Stimmten sie bei Wahlen für Hitler oder gegen ihn? Haben sie Lobpreisungen auf Hitler und die Volksgemeinschaftsideologie gepredigt? Haben sie NS-Gottesdienste abgehalten oder "Ariernachweise" ausgestellt? Waren sie Mitglied in der Bekennenden Kirche? Sind sie gegen die Deutschen Christen eingetreten? Haben sie gegen die Kirchenfeindlichkeit einzelner NS-Funktionäre protestiert? Am Ende waren es 122 Kategorien - eine komplexe Typologie, die die Handlungsweisen der Pastoren vollständig abdeckt.
Von der Datenbank zum umfassenden Pastorenverzeichnis

Um im Laufe der fünf Jahre Forschungszeit einen Überblick zu behalten, hat der Historiker alle Daten in eine eigens programmierte Datenbank eingegeben. Mithilfe dieser Datenbank konnte er am Ende das Verhalten aller Pastoren statistisch auswerten. Er konnte so nachweisen, dass eine Mehrheit aller Pastoren Nazis waren - und zwar nicht nur die Pastoren, die der Gruppe der Deutschen Christen angehörten.
Auch ein Großteil der Pastoren der Bekennenden Kirche waren zugleich Mitglieder in der NSDAP oder anderer NS-Organisationen, verbreiteten antijudaistische oder antisemitische Positionen und haben so den Nationalsozialismus aktiv unterstützt. Den Mythos, dass die Bekennende Kirche eine Widerstandskirche war, hat Hertz widerlegt. "Im Widerstand waren nur ganz, ganz wenige Pastoren. Die kann man an einer Hand abzählen", so Hertz.
Herr Hertz hat eine Pionierstudie vorgelegt. Die Arbeit ist ein Meilenstein der Kirchengeschichtsforschung in Deutschland. Er hat alle Geistlichen sehr differenziert betrachtet, in einer Art und Weise, wie das noch nie jemand gemacht hat. Professor Rainer Hering, Universität Kiel
Sein 2. Doktorvater, Professor Hering, sagt, in seiner gesamten Laufbahn sei ihm noch nie eine so herausragende Arbeit vorgelegt worden. "Herr Hertz hat eine Pionierstudie vorgelegt. Die Arbeit ist ein Meilenstein der Kirchengeschichtsforschung in Deutschland. Er hat alle Geistlichen sehr differenziert betrachtet, in einer Art und Weise, wie das noch nie jemand gemacht hat. Und hinzu kommt, dass er neben den 2.000 Druckseiten eine Datenbank mit 6.000 Seiten angelegt hat, wo man über jeden Geistlichen, der während des Dritten Reiches aktiv tätig war, alles findet, was es zu ihm gibt."
Zugang zum Pastorenverzeichnis steht allen offen
Von Anfang an war Hertz' Ziel, dass die Datenbank öffentlich nutzbar ist. Finanziell gefördert wird das Projekt von der Nordkirche, dem Verein für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte und der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein. In der Datenbank können Interessierte gezielt nach Gemeinden suchen oder nach Suchbegriffen wie "SA" oder "Antisemitismus".
Der Historiker ist sich sicher, dass die Datenbank genutzt wird: "Ich habe im Laufe der letzten Jahre viele Anfragen bekommen." Die Datenbank wird die Forschung nach Pastoren in der NS-Zeit erleichtern. Und nicht nur das: Sie kann auch Helge-Fabien Hertz die Arbeit erleichtern, weil er bei Anfragen jetzt auf sie verweisen kann.
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