Eine Bushaltestelle mit einem Wartehäuschen aus Holz auf Sylt. © picture alliance Foto: Michael Weber

Nahverkehr in SH: Mehr als 400 Gemeinden abends abgehängt

Stand: 04.07.2022 16:15 Uhr

Kein Bus und keine Bahn nach 20 Uhr: Das ist die Realität in mehr als jeder dritten Gemeinde in Schleswig-Holstein. Das hat eine Fahrplan-Analyse des NDR ergeben. Betroffen sind nicht nur Kleinstgemeinden fernab von zentralen Orten.

von Julia Barthel und Daniel Kummetz

Nach dem Spätdienst mit Bus oder Bahn nach Hause, abends ins nächste Kino mit dem öffentlichen Nahverkehr: Für die Einwohner von 429 Gemeinden in Schleswig-Holstein ist das nicht spontan möglich. Auf ihrem Gebiet wird dann keine Haltestelle mehr regelmäßig nach Fahrplan bedient. Diese große Abend-Taktlücke betrifft jeden zwölften Menschen im Land - mehr als 230.000 Einwohner leben in diesen vom Nahverkehr abgehängten Orten.

Dabei geht es nicht nur um Orte mit wenig Dutzend Einwohnern. Die größte Gemeinde ohne Abend-Anbindung auf dem eigenen Gebiet ist Mildstedt (Kreis Nordfriesland) vor den Toren Husums mit fast 4.000 Einwohnern, die nächstgrößere ist Bosau (Kreis Ostholstein) mit 3.417 Einwohnern und Bargfeld-Stegen (Kreis Stormarn) mit 3.056 Einwohnern. Dazu kommen fast 50 weitere Orte mit mehr als 1.000 Einwohnern. Je später es wird, desto mehr Gemeinden sind nicht mehr per Bus und Bahn erreichbar.

9-Euro-Ticket auf dem Land praktisch nutzbar?

Für diese Recherche hat ein Team des NDR die Fahrpläne für Schleswig-Holstein ausgewertet (Stand: 27. Juni 2022). Ausgangspunkt war die Frage, wie die Situation im Nahverkehr im ländlichen Raum ist - ganz konkret in einzelnen Orten. Wie gut ist die Anbindung vor der Haustür? Schließlich ist es das politische Ziel fast aller Parteien, dass möglichst viele Menschen auf die Öffentlichen umsteigen – aus Umweltgründen und zum Klimaschutz.

Spätestens seit den gestiegenen Spritpreisen und der Einführung des 9-Euro-Tickets gibt es auch starke finanzielle Anreize, mit dem Bus oder der Bahn zu fahren - und das Auto stehen zu lassen. Doch in welchem Maße ist das in der Fläche praktisch im Alltag möglich? Die Versorgung mit Bus- und Bahn-Angeboten am Abend ist ein Hinweis darauf, wie gut es möglich ist, auch ohne Auto über längere Strecken mobil zu sein. Denn viele Orte ohne Abendanbindung haben auch über Tag kein starkes Bus- und Bahn-Angebot. In 17 Gemeinden gibt es keine Haltestellen, die nach Fahrplan angefahren werden.

Verkehrsverbund kennt Problem - und fordert mehr Geld

Der Verkehrsverbund Nah.SH bestätigt das Ergebnis der Recherche auf Anfrage. "Es ist richtig, dass einige Gemeinden in Schleswig-Holstein gegenwärtig nicht gut an den Nahverkehr angebunden sind, insbesondere auch abends und am Wochenende", schreibt Sprecher Dennis Fiedel. Die für den Busverkehr zuständigen Kreise hätten zwar eine ganze Reihe von Verbesserungen umgesetzt, aber es gebe tatsächlich noch Defizite. Das Ziel müsse es sein die Erreichbarkeit auch auf dem platten Land zu verbessern - etwa durch bedarfsorientierte Angebote - sogenannte On-demand-Systeme. Laut Fiedel arbeitet Nah.SH an einem Pakt, um die Probleme im Nahverkehr zu lösen. Dafür sei aber mehr Geld nötig, schreibt er.

Landkreistag: Busfahrten großes Zuschussgeschäft

Auf die Probleme bei der Finanzierung des Busverkehrs auf dem Land weist auch der Landkreistag hin. Die Kreise organisieren den Bus-Nahverkehr. Die Fahrkartenverkauf würde nicht einmal die Hälfte der Kosten decken, den Rest würden überwiegend die Kreise tragen, schreibt Carsten Schreiber, der stellvertretende Geschäftsführer des Landkreistags, auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein. "Die Herausforderung für die Kreise besteht darin, eine möglichst gute und flächendeckende Versorgung vorzuhalten und gleichzeitig verantwortungsvoll mit begrenzten Steuermitteln umzugehen." Der Verband wünscht sich ein größeres Engagement des Landes.

"Wenn wirklich das Ziel der Politik ist, den Individualverkehr zu reduzieren, muss auch im ländlichen Raum der ÖPNV ausgebaut werden." Jörg Bülow vom schleswig-holsteinischen Gemeindetag

Hohe Verfügbarkeit wäre notwendig

Trotz des Kostendrucks sagt auch Schneider: Wenn Klimaschutz und ein attraktiverer ländlichen Raum gewünscht sei, müsse das Angebot besser werden, auch in den Randzeiten und in den entlegeneren Gebieten. "Wir werden nur dann mehr Menschen dazu bewegen, vom Auto auf den ÖPNV umzusteigen, wenn wir ein Angebot schaffen, das den ÖPNV zu einer echten Alternative macht", sagt er. Dafür sei eine hohe Verfügbarkeit notwendig. "Wenn ich hingegen ab 19 Uhr zwingend auf das eigene Auto angewiesen bin, wird es schwer." Das sei allen klar. Deshalb gebe es immer mehr On-demand-Angebote - also Rufbusse, so Schneider. Im Kreis Plön etwa in jeder Gemeinde jeden Tag bis 23 Uhr.

Gemeindetag: "ÖPNV muss ausgebaut werden"

Jörg Bülow vom schleswig-holsteinischen Gemeindetag fordert eine bessere Anbindung der Gemeinden, wenn eine Mobilitätswende angestrebt werde. "Wenn wirklich das Ziel der Politik ist, den Individualverkehr zu reduzieren, muss auch im ländlichen Raum der ÖPNV ausgebaut werden." Auch für Menschen mit späten Arbeitszeiten und am Wochenende - etwa für den Weg vom und zum Kino - müsse er dann ein Angebot haben. "Sonst können und werden die Menschen letztlich auf das Auto nicht verzichten."

Jede Gemeinde mit Abendanbindung - "unrealistisch"

Bülow weist daraufhin, dass es sich bei den 429 abends abgehängte Gemeinden oft auch um sehr kleine Gemeinden handelt. "Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass jede Gemeinde im Land bis in die Abendstunden angebunden werden kann", sagt er. Das fehlende Angebot nach 20 Uhr könne "bedarfsgerecht" sein, weil die Zahl der zu erwartenden Fahrgäste sehr gering ist. Doch Bülow ist sich sicher, dass das nicht überall der Fall ist: "Es wird aber auch viele Fälle geben, wo das aktuelle Angebot nicht bedarfsgerecht ist, zusätzliche Fahrten bisher aber aus Gründen der Kosten nicht angeboten werden konnten."

Verkehrsminister Madsen: Gemeinsam beim Bund um Geld werben

Schleswig-Holsteins neuer Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen (parteilos) betont in seiner Reaktion auf das Recherche-Ergebnis, dass Schleswig-Holstein ein Flächenland sei. In einigen Regionen sei es sehr schwer, die klassische Form des ÖPNV hinzubekommen. Er sagt aber: "Das muss besser werden". Dann gehe es aber um eine flexiblere Mobilität - auch er setzt auf Rufbusse und On-Demand-Lösungen. Angesprochen auf den Wunsch des Landkreistages nach mehr Geld vom Land für den Nahverkehr verweist Madsen auf die Zuständigkeit von Kreisen und kreisfreien Städten dafür, bietet aber an, gemeinsam mit den Kommunen beim Bund für mehr Unterstützung zu werben.

So wurden die Daten ermittelt

Grundlage für die Analyse war die Datenbank DELFI (Durchgängige Elektronische FahrgastInformation), in die auch Nah.sh und HVV aktuell ihre Daten einspeisen. Die mehr als 11.000 Haltestellen wurden den etwa 1.100 Gemeinden zugeordnet. Teil der Auswertung sind ausschließlich Busse und Bahnen. Dafür wurden aus dem Datensatz alle Verkehrsmittel ausgeschlossen, die als Fähre, Seilbahn oder Schwebebahn gekennzeichnet waren. Außerdem sind Fähren und Schiffe nicht berücksichtigt, die offensichtlich fälschlicherweise als Busse klassifiziert waren.

Eine Gemeinde ist in dieser Auswertung "abends abgehängt", wenn keine einzige Haltestelle auf dem Gebiet der Gemeinde nach 20 Uhr regelmäßig angefahren wird. Anruf-Sammel-Taxis, Bürgerbusse oder On-demand-Dienste wurden bei dieser Analyse nicht berücksichtigt. Dabei spielt keine Rolle, wie viele Busse oder Bahnen noch fahren - nur ob es mindestens noch eine Abfahrt gibt. Berücksichtigt wurde nur Fahrten, die von einer Haltestelle in Schleswig-Holstein zu einer anderen Haltestelle in Schleswig-Holstein fahren.

Die Analyse auf Gemeinde-Ebene ist am besten zu verstehen und funktioniert auch in den meisten Fällen. Wie immer gilt in Schleswig-Holstein: Der Vergleich von Gemeinden ist manchmal schwierig. Denn sie sind sehr unterschiedlich - was Flächengröße und Einwohnerzahl angeht, es gibt Kleinstgemeinden mit weniger als 100 Einwohnern und Großstädte.

Gemeinden unterschiedlich - eher mehr Orte abends abgehängt

Manche Orte sind kompakt besiedelt, um einen Ortskern oder eine Hauptstraße herum, andere bestehen aus mehreren Ortsteilen, die früher selbständige Gemeinden waren und mehrere Kilometer auseinander liegen. Es kann dann also sein, dass die abends bediente Bushaltestelle ziemlich weit weg vom Wohnort ist, aber noch in der Gemeinde. Es sind also wahrscheinlich abends noch deutlich mehr Menschen vom öffentlichen Nahverkehr abgehängt als die Bewohner der 429 Gemeinden ohne Bus- und Bahnanbindung ab 20 Uhr.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 04.07.2022 | 08:00 Uhr

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