Platzmangel: Schutzsuchende leben wieder in Zelten
Städte und Gemeinden schlagen Alarm: Es gibt keinen Platz mehr für Geflüchtete. Heute treffen sich daher Bund und Kommunen, um über die Unterbringung von Ukrainern und Asylsuchenden zu beraten. Denn überall im Norden schlafen Menschen in Containern, Turnhallen oder auf Schiffen - in Hamburg sogar in Zelten.
Wo Andrii an diesem Abend schläft, weiß er noch nicht. Der Ukrainer tritt aus einer grauen Tür auf die Straße. In der Hand hält er ein Blatt Papier mit einer Wegbeschreibung von Google. Schnackenburgallee 81 ist das Ziel: der Parkplatz des HSV-Stadions. Dort soll der 39-Jährige von nun an wohnen. In einem Zelt hätten sie gesagt. "Ich weiß nicht, was jetzt weiter passiert", sagt er.
In der Nacht, bevor Andrii mit seiner Helferin und Übersetzerin Luba durch die graue Tür trat, schlief er noch in vier festen Wänden bei seinem Kumpel im Süden Hamburgs. Seit Februar schon. "Er war bei ihm zu Besuch als der Krieg ausbrach. Seit August ist er registriert", sagt Luba. Nun sind sieben Monate vorbei. In einem Raum zu schlafen, das geht nun einfach nicht mehr. Eine Wohnung hat Andrii nicht gefunden. Deswegen kam er nun nach Hamburg-Hammerbrook in die Aufnahme- und Vermittlungsstelle für wohnungslose Menschen ohne festen Wohnsitz und Zuwanderer. Und die hat in dem Moment, in dem Andrii ein Bett braucht, nicht mehr zu bieten, als einen Platz in einem Zelt.
Mindeststandards nicht mehr einzuhalten
Das Ziel sei, Zeltplätze so kurz wie möglich zu belegen, sagt der Pressesprecher der Hamburger Sozialbehörde, Martin Helfrich, im Gespräch mit NDR Info. "Ob wir über eine Nacht oder Tage oder Wochen reden, hängt davon ab, welche Unterkunft wir gerade neu aufmachen." Stündlich ändere sich das Platzangebot. Neben den Zelten in der Schnackenburgallee würden derzeit auch in Harburg neue Zelte hergerichtet. "Wenn wir etwas anderes haben, nutzen wir die Zelte nicht", so Helfrich. Ende vergangenen Jahres habe die Stadt etwa 1.000 freie Plätze als Spielmasse zur Verfügung gehabt. Nun bewegten sich die freien Plätze im niedrigen zweistelligen Bereich. Ja, es müssten sich auch Familien ein Zelt teilen, die sich vorher gar nicht kannten. Frauen und Kinder also mit ihnen unbekannten Männern leben.
Räumliche Trennung von Männern ist ein Mindeststandard im Schutzkonzept von Flüchtlingsunterkünften des Bundesfamilienministeriums. Und kann aktuell in Hamburg nicht eingehalten werden. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen wird nach Angaben der Landesbehörden getrennt untergebracht. Das Innenministerium in Schwerin teilt mit, dass in Notunterkünften zwar gemischt untergebracht werde, es aber eine räumliche Trennung geben soll, die "je nach den örtlichen Gegebenheiten von separaten Räumen bis hin zum Beispiel zu mobilen Trennwänden reichen kann".
Stadthallen, Sporthallen und Schiffe als Unterkünfte
In Rostock leben Schutzsuchende auf Flusskreuzfahrtschiffen, in Emden in der Stadthalle, in Leer schlafen die Menschen in Turnhallen. Bremen will winterfeste Leichtbauhallen aufstellen und Hamburg eine Messehalle in diesen Tagen wiedereröffnen.
Freie Plätze in den Landesunterkünften von Schleswig-Holstein im August 2022: ein Prozent. So steht es im Monatsbericht. "Die Lage bei der Unterbringung der Flüchtlinge ist ähnlich wie während der Flüchtlingskrise 2015/2016", sagte der Geschäftsführer des Niedersächsischen Landkreistages, Hubert Meyer, kürzlich. "Überall in Norddeutschland gibt es Schwierigkeiten bei der Unterbringung", sagte die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, Dietlind Jochims, NDR Info.
Ende September hat auch das Ökohaus Rostock der Stadt gemeldet, keine freien Betten mehr zu haben. "Bisher konnte man immer noch mal jemanden umziehen lassen, aber nun mussten wir sagen: Wir können niemanden mehr aufnehmen", sagte Teammitglied Sebastian Trettin NDR Info. 2016 habe man auch Betten in Büros und Fernsehräume gestellt. "Dagegen wehren wir uns noch." Aber langsam nähere sich die Situation der Lage von 2016 an.
Rund 230.000 Schutzsuchende im Norden angekommen
Mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit Jahresbeginn bis Ende September in den Norden gekommen. Dazu kommen mehr als 26.000 registrierte Asylsuchende aus anderen Ländern. Und täglich kommen neue Menschen hinzu. Nicht alle brauchen einen Platz in öffentlichen Unterkünften. Aber Norddeutschland - Städte, Kommunen und Privatleute - musste in diesem Jahr Platz schaffen für so viele Menschen, wie Lübeck Einwohner hat. Etwa 5.800 neue Erstaufnahmeplätze haben die Länder seit Januar dafür eingerichtet; hinzu kommen Tausende längerfristige Plätze in den Kommunen. Allein im Stadtstaat Hamburg werden neben 115 regulären Unterkünften derzeit 95 Zwischen- und Not-Standorte genutzt: darunter Schulen, Bürogebäude und zahlreiche Hotels. Täglich kommen zwar neue Orte hinzu. Doch es reicht nicht. Denn in welche Wohnungen sollen die Menschen ziehen?
Was passiert, wenn der Winter in der Ukraine hart wird? Wohin fliehen Russen vor dem Militäreinsatz? Wie willkommen fühlen sich Menschen anderer Herkunft in einem Italien mit einer ausländerfeindlichen Regierung? Dort kamen im August so viele Menschen an wie im September 2015. Der Winter naht, da wird es auch in Griechenland und der Türkei wieder schwerer zu überleben. Schaut man auf Südeuropa, dann weiß man, worauf auch Norddeutschland sich einstellen sollte. Hamburg und Schleswig-Holstein haben das schon deutlich gemacht. Auch Niedersachsen erwartet in den kommenden sechs Monaten etwa 70.000 Schutzsuchende.
Am Eingang der Schnackenburgallee 81, der größten Unterkunft der Stadt Hamburg für Asylsuchende und Geflüchtete. Ende September hat sie offiziell 1.084 Plätze, zudem 120 Betten in Zelten. Die zehn dunkelgrünen Zelte neben dem Eingang ins Camp sind noch unbenutzt. Ein Putzwagen steht zwischen den Zelten. Riesige runde Lüftungsschläuche führen hinein. Die Zelte wirken deutlich stabiler als die weißen Festzelte von 2015, die dreckig und undicht waren. Bald wird auch hier jemand wohnen. Am Eingang wird Andrii auf Deutsch begrüßt. Er hält seinen Zettel hin. "Besuch?" Der gelernte Maler versteht nichts. Der Sicherheitsmann ruft seinen Kollegen, denn der spricht russisch. "Wir müssen ihn erstmal anmelden. Dann wird das Büro ihn verteilen", sagt er und nimmt Andrii mit durch das Containerdorf. Rechts und links stehen Containerblöcke - zwei oder drei übereinander gestapelt. 2,5 Meter Rauminnenhöhe, 6 Meter lang und 2,5 Meter breit. Ganz hinten auf dem Gelände stehen weitere Zelte. Dort soll Andrii einziehen. Kleinkinder fahren Roller und Fahrrad. Erwachsene laufen mit Essen in der Hand Richtung Ausgang. "Welche Eindrücke ich habe? Die Hauptsache ist, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. Und danach ist es so, wie es ist", sagt er noch.
Vier Menschen in einem Container
Ein junger Mann mit Sonnenbrille fährt mit dem Fahrrad durch den Ausgang. "Wir sind zu viert in einem Container. Du hast nicht mal Platz zum Atmen", sagt er. Er sei Arzt, aus Libyen ursprünglich, aber er lebte in der Ukraine. 30 Jahre alt. Und nun müsse er weiter zum Sprachkurs. Eine ältere Dame, Steppjacke, leicht geschminkt, zeigt auf ihren Mann. Der sagt: "Vier, zehn Quadratmeter. Nix gut", so viel versteht man noch, dann geht er kopfschüttelnd weiter.
Andrii kommt zurück zum Eingang. "Es war etwas chaotisch. Sie haben lange ein freies Zelt gesucht", übersetzt Luba. Er hat jetzt ein Etagenbett. Acht Leute. "Es gibt nichts Besseres. Was soll man machen. Wichtig ist, dass man nicht auf der Straße ist", fasst Andrii zusammen. Wie lange er im Zelt wohnen soll, hat niemand gesagt. Aber: Es gebe noch keine Bettwäsche für ihn. "Also habe ich abgemacht, dass ich morgen wiederkomme." Die Nacht wird er nun doch noch mal bei seinem Kumpel schlafen und morgen dann mit seinen Sachen einziehen. Dann soll Andrii auch eine Bettdecke für sein Bett im Zelt bekommen.
Hinweise der Redaktion: Andrii hat einem Foto und der Veröffentlichung seines Nachnamens nicht zugestimmt.