Stand: 30.05.2022 17:00 Uhr

Karriere mit Behinderung: "Beweisen, dass ich besser bin"

Frauen mit Behinderung haben noch immer schlechtere Voraussetzungen im Job: Laut einer aktuellen Studie sind sie weniger in Vollzeit beschäftigt, verdienen häufiger unter 1.000 Euro netto und sind viel weniger in Führungsverantwortung. Claudia Gersdorf war bis vor Kurzem Pressesprecherin des Hamburger Unternehmens Viva con Agua. Jetzt hat sie sich mit einer Unternehmensberatung selbstständig gemacht. Auch sie kämpfte in ihrem Leben immer wieder gegen Widerstände. Wie hat sie es trotz allem geschafft?

Seit der Kindheit leben Sie mit einer Behinderung. Wie wirkt sich die im Alltag aus?  

Claudia Gersdorf im Porträt  Foto: Guido Werner
Claudia Gersdorf will Menschen neue Perspektiven aufzeigen - zum Beispiel, dass Karriere machen auch mit Behinderung geht.

Claudia Gersdorf: Als Neugeborenes wurde ich zunächst gesund entlassen - trotz 30 Minuten Sauerstoffmangels bei der Geburt. Meine Mama ist Physiotherapeutin und hat mit zwei Jahren gemerkt, dass nicht alles in Ordnung ist. Nach langer Suche hat dann ein Kinderarzt die Diagnose gestellt: Infantile Zerebralparese mit Ataxie und Tremor. Das ist die offizielle Bezeichnung, umgangssprachlich sagt man dazu: Spastik. Ich konnte als Kind erst mal nicht laufen, nicht sprechen. Die Muskulatur ist komplett durcheinander, teilweise nicht existent. Lähmungen und das Stärkste, was für mich sichtbar ist: ein Zittern. 

Sie haben in Ihrer Kindheit sehr viel trainiert, Logopädiestunden genommen, Physiotherapie bekommen. Liegt darin der Schlüssel, dass Sie heute ohne Hilfe laufen können? 

Gersdorf: Meine Eltern haben sehr viel Geld, Kraft und Mut investiert. Bei diesen körperlichen Begleiterinnen, wie ich immer sage, ist es essenziell, Bewegung zu erlernen. Es hat lediglich ein Schaden im Kleinhirn stattgefunden - dieser Teil ist verantwortlich für die Bewegung und nicht fürs Denken. Der Vorteil ist, dass das Großhirn alles erlernen kann. Die Prognose lautete: niemals selbständig lebensfähig und immer auf Assistenz angewiesen. Genau diese Formulierungen versuche ich mein ganzes Leben zu transformieren - hin zum Positiven. 

Sie haben Abitur gemacht, im Ausland studiert, Sie sprechen fünf Sprachen und haben mittlerweile 15 Jahre Berufserfahrung. Nehmen Sie Ihre körperliche Behinderung überhaupt noch als Beeinträchtigung für den Beruf wahr?

Gersdorf: Stephen Hawking hat mal gesagt: "Auch wenn ich mich nicht bewegen kann und ich durch einen Computer sprechen muss: In meinem Kopf bin ich frei." Ich habe mir einen Beruf ausgesucht, der durch meinen Geist lebt. Ich brauche primär meinen Geist. Deswegen ist meiner erste Antwort: Nein. Aber die zweite Antwort lautet: Manchmal wünsche ich mir, den Mut zu haben und gerade in der Vergangenheit auch gehabt zu haben, mehr Unterstützung einzufordern. Ich bin immer diesen Weg gegangen: Ich möchte beweisen, dass ich besser bin als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Ich wollte immer überall dazugehören, gesehen werden. Aber je mehr ich nicht mehr so dagegen ankämpfe, diese Begleiterscheinungen zu haben, desto besser komme ich durchs Leben und durch den Beruf.

Gab es auch mal Punkte in Ihrem Leben, an denen Sie dachten: Ich packe das nicht? 

Gersdorf: Ja, die gab es. In der Kindheit waren es die Momente, in denen ich nicht mehr weitertrainieren wollte, lieber spielen wollte. Ich wollte nicht mehr hören: "Lauf ordentlich, streng dich an." Ich wollte davon einfach nichts mehr wissen. Als Erwachsene sind es die Momente, in denen ich mich frage: Geht es wieder darum, allen beweisen zu wollen, dass ich Teil der Gesellschaft bin? Gebe ich viel mehr ins System hinein als nötig, überfordere ich mich?

Sie haben Karriere gemacht, sind Kommunikationschefin im Hamburger Unternehmen Viva con Agua geworden. Gab es auf dem Weg dorthin Hindernisse aufgrund Ihrer Beeinträchtigung? 

Gersdorf: Ich hatte mal ein Gespräch in Berlin, in einer Agentur, weil ich unbedingt zunächst in einer PR-Agentur arbeiten wollte. Im Bewerbungsgespräch wurde mir gesagt: "Frau Gersdorf, wieso haben Sie das denn nicht vorher gesagt? Wir hätten Sie gar nicht eingeladen. Sie können ja, so wie Sie hier sitzen und zittern, nicht mal ein Sektglas halten. Wir wünschen Ihnen auf jeden Fall alles Gute." Da sitzt man in der letzten Runde - und ist plötzlich raus. 

Wie sind Sie damit umgegangen? 

Gersdorf: Inzwischen, auch seit meiner Zeit bei Viva con Agua, bin ich humoristischer unterwegs. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Früher bin ich da schon auch manchmal emotional geworden und habe die Jeanne d'Arc gemacht und verbrannte Erde hinterlassen. Es war schon sehr schmerzhaft. Jetzt denke ich, ich habe die Möglichkeit, den Menschen neue Perspektiven aufzuzeigen und neue Erfahrungen zu geben.

Was muss sich aus Ihrer Sicht dringend ändern? 

Gersdorf: Wir alle sind Wesen, die sich permanent weiterentwickeln wollen. Dafür müssen Voraussetzungen geschaffen werden. Damit meine ich, dass die Lehrer und Erzieher nicht allein dastehen und nur hören: "Ihr bekommt jetzt ein Kind mit Behinderungen in die Klasse, und damit müsst ihr klarkommen." Ich wünsche mir, dass Voraussetzungen geschaffen werden, mit denen wir alle von Anfang an ähnliche Möglichkeiten bekommen, uns zu entwickeln. 

Das Interview führte Lina Beling.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Infoprogramm | 31.05.2022 | 10:20 Uhr

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