Eine Frau mit langen dunklen Haaren und hellgrünem Pulllover sitzt an einem Schreibtisch und blickt ernst in die Kamera. © NDR Foto: Katja Weise

Fatma Aydemir über Familie, Migration und das Patriarchat

Stand: 13.03.2022 07:42 Uhr

Fatma Aydemir schaut in ihrem neuen Roman "Dschinns" auf drei Jahrzehnte Arbeitsmigration und ein Leben zwischen zwei Kulturen zurück. Bei NDR Kultur à la carte berichtet die Autorin von ihren eigenen Migrationserfahrungen.

Istanbul, 1999. Hüseyins Traum hat sich erfüllt: Nach 30 Jahren als "Gastarbeiter" in Deutschland freut er sich in seiner Istanbuler Eigentumswohnung auf die Ankunft seiner Familie. Diese jedoch kommt nur noch zu seiner Beerdigung: Herzinfarkt. Sechs Familienmitglieder stehen im Zentrum von Fatma Aydemirs neuem Roman "Dschinns" - sie alle haben ihren eigenen Blick auf die Famlie, tragen Geheimnisse und Wunden in sich.

Fatma Aydemir über ihren neuen Roman "Dschinns"

Mit ihrem neuen Buch "Dschinns" hat die Schriftstellerin und "taz"-Journalistin Fatma Aydemir einen Gesellschafts- und Familienroman geschrieben. Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin. 2017 erschien bei Hanser ihr Debütroman "Ellbogen". Zu Gast bei NDR Kultur à la carte sprach sie im Gespräch mit Katja Weise über die Themen Migration, Familie und Patriarchat.

Katja Weise: Man erfährt in Ihrem Buch, an wie vielen Stellen diese Familie in Deutschland nicht angenommen wird oder ihr bestimmte Hindernisse in den Weg gestellt werden. Man sieht aber auch, welche Probleme es innerhalb der Familie gibt. Es gibt bestimmte Traditionen, die ein Leben, wie es sich die Kinder wünschen, unmöglich machen. War Ihnen das ein Anliegen?

Fatma Aydemier: Einer der Gründe, warum ich die Geschichte in diesen unterschiedlichen Perspektiven erzähle, ist auch, um von verschiedenen Seiten her auf dieses Konstrukt Familie zu blicken. Die Familienmitglieder haben alle ein unterschiedliches Verhältnis zur Familie, aber auch zum Familienbegriff. Es geht viel um Rollen, was mit dem Konzept Familie zu tun hat. Das hat man in jeder Gesellschaft. Die große Hoffnung ist, dass sich das mit der Zeit ein bisschen auflöst und wir gesellschaftlich von diesen starren Familienbegriff wegkommen. Gerade in der Pandemie hat man gemerkt, dass es einfach unzeitgemäß ist zu sagen, man darf Familienmitglieder sehen. Wer ist damit gemeint? Nicht jeder Mensch ist mit der biologischen Familie noch in Kontakt oder will dich überhaupt sehen, in so einer Situation.

Es geht viel darum, welche Rolle spielt eine Figur innerhalb der Familie? Wie lebt sie mit dieser Rolle? Wie kommt sie damit klar? Hakan hat überhaupt keine Lust, nach dem Tod des Vaters das neue Familienoberhaupt zu sein. Gleichzeitig performt er das trotzdem immer weiter vor seiner Mutter, weil die ganze Familiensituation und auch diese Beerdigung eine Art Performance ist. Es war mir total wichtig, diese Männer auch in ihrer eigenen Fragilität zu zeigen, weil ich nicht glaube, dass patriarchale Strukturen etwas sind, von dem nur Männer profitieren und an dem nur Frauen leiden. Und dass es so eine einseitige Opfergeschichte ist. Ich glaube, die Männer leiden genauso daran. Und Frauen sind genauso daran beteiligt, sie aufrechtzuerhalten. Es war mir auf jeden Fall ein Anliegen, das mit zu erzählen.

Sie haben ja als Journalistin angefangen. Es gibt den einen oder anderen Journalisten/Journalistin, die Romane schreiben, aber es ist ja nicht eine zwangsläufige Entwicklung.

Ich wollte schon immer schreiben, ich wollte auch immer einen sicheren Job haben. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und bin mit dem Ziel und der Idee aufgewachsen, dass es sehr wichtig ist, einen festen Job zu haben und nicht abhängig zu sein, weder vom Staat noch von anderen Menschen. Schreiben ist mein Ding. Wie kann man das kombinieren? [...] Es erschien mir damals realistischer, dass sich Journalistin werde anstatt Autorin und Schriftstellerin. Dann bin ich eben bei der "taz" gelandet, habe da angefangen zu arbeiten. Das hat mich auch ein Stück weit erfüllt. Aber ich habe gemerkt, da ist einfach eine Lücke. Was ich eigentlich will, ist: Ich will mich hinsetzen und auch fiktionale Geschichten schreiben. Das Romanschreiben funktioniert ganz anders. Das heißt, ich habe dann einfach ein paar Sommer lang mir immer länger freigenommen, um mir das Romanschreiben irgendwie beizubringen.

Ich bin über einen Werbespot des Hanser-Verlags für "Dschinns" gestolpert, in dem ihr Kollege Mohamed Amjahid sagt: "Migrakinder lesen 'Dschinns', um sich selbst zu betrachten. Weiße Deutsche lesen 'Dschinns' als Fenster in die Lebensrealität von Millionen von Menschen in diesem Land." Kurzum: Wollten Sie Migrakindern auch eine Stimme verleihen?

Wenn ich eine Geschichte schreibe, dann gehe ich erstmal von meinem eigenen Bedürfnis aus. Denn ich bin meine eigene erste Leserin. Das heißt, am Ende ist erstmal die Frage: Welche Geschichte finde ich erzählenswert und welche würde ich gerne lesen? Welche existiert einfach noch nicht? Dass andere sich mit den beschriebenen Erfahrungen identifizieren können, fühlt sich toll an. Ich bekomme, seit das Buch erschienen ist, wahnsinnig viel private Post, also Nachrichten über Social-Media, E-Mails, auch über die Zeitung. Bei "Ellbogen" war es auch schon so. Aber diesmal ist es ein bisschen krasser. [...]

Ich bin super bewegt davon, was mir die Leute erzählen, was das Buch mit Ihnen gemacht hat, wie sie sich damit identifizieren konnten. Aber ich gehe nicht mit diesem Anspruch ran. Ich finde es ein bisschen komisch, auch ein bisschen arrogant, zu glauben, ich könnte die Stimme für andere Leute sein. Ich bin ich. Und ich habe meine Stimme. Ich unterhalte mich während des Schreibprozesses viel mit Leuten. Aber ich maße mir jetzt nicht an, für andere zu sprechen und gleichzeitig freue ich mich unglaublich, zu hören, wieviel andere Menschen mit diesen Geschichten anfangen können.

"Dschinns" von Fatma Aydemir ab 21. März 2022 in "Am Morgen Vorgelesen"

Ab dem 21. März 2022 ist der Roman "Dschinns" von Fatma Aydemir in 15 Folgen in "Am Morgen vorgelesen" bei NDR Kultur zu hören - gelesen von Sesede Terziyan. Zu hören sind die Lesungen vom 21. März bis zum 8. April 2022, jeweils Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 9 Uhr im Programm von NDR Kultur. Nach der Ausstrahlung stehen die Folgen sieben Tage zum Nachhören bereit.

Weitere Informationen
Die Autorin Fatma Aydemir im Porträt.  Foto: Sibylle Fendt

Fatma Aydemir spricht über ihren Roman "Dschinns"

In ihrem neuen Buch beschreibt die preisgekrönte Schriftstellerin die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie. mehr

Ein Bücherstapel liegt auf einem Holztisch vor einer farbigen Wand. © IMAGO / Shotshop

Bücher 2022: Die spannendsten Romane und Erzählungen

Viele aufregende Bücher sind im Jahr 2022 erschienen. Etwa von Yasmina Reza, Ralf Rothmann, Isabel Allende, Kim de l’Horizon und Markus Orths. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 11.03.2022 | 13:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Dirigent Jörg Widmann und die NDR Radiophilharmonie © NDR Foto: Helge Krückeberg

Gleich: Beethovens 7. Sinfonie mit Jörg Widmann

Jörg Widmann ist ab dieser Saison Erster Gastdirigent der NDR Radiophilharmonie - dies ist sein Antrittskonzert live. Video-Livestream