Ukrainische Kinder in der Schule: Der richtige Umgang mit Traumata
Der renommierte Traumapädagoge Alexander Korittko hat Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer über den Umgang mit traumatisierten geflüchteten Kindern aus der Ukraine erstellt.
Kinder aus der Ukraine, die nach ihrer Flucht bei uns in den Klassen sitzen und sagen: "Wir sind okay! Uns geht es gut!" Und ihnen gegenüber: Lehrerinnen und Lehrer, die natürlich wissen: Da ist nichts okay. Wie geht es diesen Kindern?
Ich glaube, wenn die sagen "alles okay", ist es zunächst mal eine teilweise passende Antwort, weil sie nicht mehr in direkter Bedrohung sind. Die andere Seite ist aber, dass sie sich zusammen mit ihren Müttern und Großmüttern natürlich Sorgen und Gedanken über die Väter und Großväter machen, die in der Ukraine nach wie vor ums Überleben kämpfen. Das heißt, die Kinder sind in einem Zwischenstadium zwischen eigener Sicherheit und Sorge um andere.
Und dazu kommt wahrscheinlich, dass diese Kinder Bilder im Kopf haben, die sie während der Flucht gesehen haben, die sie erst einmal verarbeiten müssen?
Das ist richtig. Die Frage ist: Wie geht so eine Verarbeitung? Früher hat man gesagt, man müsste sofort nach dramatischen Ereignissen über das Dramatische sprechen, um die Bilder in Worte zu fassen. Heute wissen wir: Es gibt Menschen, die sind bereit, darüber zu sprechen - andere noch nicht. Die brauchen etwas ganz anderes. Ich glaube, da gibt es individuelle Unterschiede.
Jetzt sieht es in der Praxis so aus, dass die Kinder hier in Norddeutschland im Unterricht sitzen. Ist das tatsächlich das, was sie jetzt brauchen: rechnen, schreiben und lesen zu lernen?
Sie brauchen vor allen Dingen das Gefühl, auf irgendeine Weise selbstwirksam zu sein. Wenn sie etwas lernen, was ihnen bisher noch nicht bekannt ist - zum Beispiel zu sagen: Ich heiße Viktor und ich komme aus Kiew - ist das schon ein Teil Selbstwirksamkeit. Aber man muss sich nicht vorstellen, dass sie sofort bereit sind, zusätzlich in einer fremden Sprache all diese Dinge zu lernen, die andere Kinder in der Schule lernen.
Sie haben Handreichungen erstellt, zum Beispiel für Lehrerinnen und Lehrer, die mit diesen Kindern arbeiten. Was sind die wichtigsten Tipps, die Sie denen mit auf den Weg geben können?
Der wichtigste Teil ist, dass die Kinder selbst etwas machen können. Wenn man die Sprache nicht kann, sind es vielleicht körperliche Betätigungen, also irgendetwas, was ohne Sprache funktioniert. Das ist dann zunächst einmal sehr viel wichtiger und sehr viel hilfreicher - nicht nur als Ablenkung, sondern auch, um den eigenen Körper als lebendig zu erleben und aus einer körperlichen Erstarrung herauszukommen.
Können Pädagoginnen und Pädagogen dem im normalen Schulalltag überhaupt gerecht werden?
Sie können das, indem sie zum Beispiel jeden Morgen - oder wenn man sich in der Klasse verabschiedet - bestimmte Rituale einbauen, die nichts mit Sprache zu tun haben. Vielleicht sich einmal im Kreis aufstellen, an den Händen fassen und ein Lied singen. Das könnte schon etwas Hilfreiches sein. Vor allen Dingen sind Rituale, das heißt wiederkehrende Zeitstrukturen, etwas ganz, ganz Wichtiges für Kinder, die aus der Ukraine hier sind, weil diese Zeitstrukturen zu einem Gefühl von Voraussagbarkeit verhelfen. Es passieren nicht permanent Dinge, die unerwartet und schrecklich sind, sondern es passieren Dinge, die voraussehbar sind.
Wenn wir auf das ganze Bildungssystem gucken: Woran mangelt es da?
Ich glaube, dass wir auch viele andere Kinder haben, die im normalen Schulalltag nicht gut zurechtkommen, wenn wir zum Beispiel an Inklusion denken und an die Frage: Wie kann man Kinder mit Behinderungen in den Schulalltag hineinbringen? Ich glaube, wir bräuchten kleinere Gruppen. Ich glaube, wir bräuchten Maßnahmen für besondere Bedürfnisse von Kindern.
Welche Bereicherung kann es für eine Klasse, für den Unterricht insgesamt sein, wenn Kinder und Jugendliche zum Beispiel aus einem Kriegsgebiet mit dabei sind?
Ich glaube, die Bereicherung ist, dass Kinder sehr früh in der Schule lernen, dass es andere Schicksale, Kulturen und Sprachen gibt und dass diese Unterschiedlichkeit längerfristig dazu beitragen kann, sehr viel mehr von anderen Ländern, von anderen Kulturen und von anderen Dingen zu lernen als nur das, was man im deutschen Alltag erfährt.
Das Interview führte Jan Wiedemann.
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