Sprache im Krieg: Menschen als Tiere?
Krieg verändert das Leben von Millionen. Viele haben den Tod vor Augen. Für andere verändert sich nur das Denken. Aber auch das ist nicht banal, findet Ulrich Kühn.
"Die sind ja wie Tiere!" Oder, direkter noch: "Das sind Tiere!" Wenn Krieg ist, tun Menschen nach kürzester Zeit, was sie niemals tun wollten: Sie sprechen anderen Menschen das Menschsein ab, aus Wut, Verzweiflung oder Ratlosigkeit. Mag man im höchsten Grad sprachsensibel geworden sein, mag man auf heikle Wörter verzichten, um auch wirklich jeder Facette des Menschseins gerecht zu werden: Der Krieg straft alle und alles Lügen. Menschen vollbringen jetzt furchtbarste Taten. Sind sie dann also nicht: Tiere?
Drastische Worte: Versuche der Abspaltung
Aufgefallen ist es mir in den Kommentarspalten von "Spiegel Online". Als eine Reportage des großartigen Christoph Reuter über die zurückeroberte Stadt Trostjanez erschien, war des Kommentierens kein Halten. "Das ist einfach kein Teil der Menschheit mehr", wütete einer, und: "Wie die Tiere, bis zum Schluss". Er war damit nicht allein. Gemeint hat er russische Soldaten, die sich vor dem Rückzug, Christoph Reuter zufolge, in kaum nachzuerzählender Weise abstoßend verhielten. Die von Reuter geschilderten Dinge übersteigen die friedliche Alltagsfantasie. Das war zutiefst deprimierend zu lesen. Eine Sprache dafür ist nicht leicht zur Hand. Solche Grässlichkeiten lassen sich beschreiben - doch wo sind Worte, sie zu bewerten?
Verhalten, das allem zivilisiert-menschlichen Umgang Hohn spricht, kann man immerhin "unmenschlich" nennen, jeder versteht dann, was gemeint ist. Aber was ist gewonnen, wenn ein solches Menschenwerk kurzerhand als "tierisch" bezeichnet wird? Und wenn dieses "viehische" Verhalten in langer historischer Linie gleich umstandslos "den Russen" zugeordnet wird? Auch das kam vor in den Kommentaren.
Ich glaube, das sind Versuche der Abspaltung. Man will nicht wahrhaben, dass im tiefsten Grund anti-humane Praktiken wie in Putins Krieg, trotz allem, was in der Geschichte an Terror und Horror geschah und endlich begriffen sein müsste - dass solche Praktiken immer noch menschenmöglich sind: indem Menschen es sind, die sie praktizieren. Dabei müssten wir Deutschen es wissen. Das Markerschütternde war, ist und bleibt doch, dass auch Menschen guter Bildung, liebende Familienmenschen, im Krieg jede Hemmung fahrenlassen. Keineswegs alle taten und tun es. Aber es kam und kommt vor.
Gewalt bleibt ein Menschheitsproblem
"Gewalt ist niemals eine Lösung." Dieser Parole folgen nicht nur Pazifisten. Man wünscht sich ja im tiefsten Innersten, dass sie glasklar die Wahrheit beschriebe. Und es tut dann im tiefsten Innersten weh, wenn man vor Augen geführt bekommt: Für manche, in manchen Situationen, ist Gewalt eben doch eine "Lösung". Des Menschen Würde ist antastbar: dort, wo die Regeln des Menschlichen durch Menschenwillkür außer Kraft gesetzt sind. Man möchte angesichts dessen schreien, aufbegehren, rebellieren: "Nein, nein, nein! Es darf nicht sein!" Und doch geschieht es. Wer fasst die Gefühle in Worte, die deshalb das Herz außer Takt setzen, die ihm einflüstern wollen, nicht mehr zu schlagen?
Dass Putin sich verkalkulierte, dass ihm die Lage von angsterfüllten Geheimdienst-Lakaien unzutreffend geschildert wurde: Es widerspricht nicht dem Befund. In viel zu vielen Fällen wird der Aggressor ja belohnt, Putin hat es selbst erlebt und hat aufs Neue darauf gesetzt. Falls es diesmal anders kommt, ist das zutiefst zu bejahen; fast alles, was diesen Krieg zu einem Ende führt, einem Ende, das Menschenleben erhält und den Gerechtigkeitssinn nicht noch tiefer verletzt, ist zutiefst zu bejahen. Doch ein anthropologischer Beweis gegen die Verankerung der Gewalt wird daraus nicht werden. Gewalt ohne Maß, Sinn und Ziel bleibt vorerst im Menschheitsrepertoire. Entscheidend wird sein, wie wir mit dieser alt-neuen Einsicht hantieren. Auch wenn im Fall dieses Kriegs nicht der geringste Zweifel sein kann, auf wessen Seite das Unrecht liegt, wer die Prinzipien der Humanität mit Soldatenstiefeln tritt und verhöhnt: Indem wir Menschen zu Tieren oder zu Teufeln erklären, ist das Problem der Gewalt nicht gelöst. Es lässt sich nicht nach außen verlagern, es bleibt ein Menschheitsproblem. Ist das so? Alles gäbe man darum, wenn man damit Unrecht hätte.
