Grausig oder großartig? Das neue Kulturjahr mit Corona
Nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie ist die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen, mit der wir früher Theater, Konzerte oder Kinos besuchten. Führt überhaupt ein Weg zurück zu den schönen Gewohnheiten der vorpandemischen Zeit?
Es war einer jener Zufälle, die sich vorherbestimmt anfühlen. Den jungen Geiger hatte ich während eines Hauskonzertes in Berlin zum ersten Mal gehört und sofort beglückt zum Interview gebeten. Bescheiden wie viele große Künstler berichtete er mir erst nach dem Ende unseres Radio-Gesprächs, er dürfe im Oktober in der kürzlich eröffneten Elbphilharmonie als Solist das Schumannkonzert spielen, begleitet von den Hamburger Symphonikern. Und, ein beinahe entschuldigendes Lächeln, der Abend sei sofort ausverkauft gewesen. Nun war die "Elphi" selbst für "philharmonieverwöhnte" Berliner zum Sehnsuchtsziel geworden, allein, im ersten Jahr ein nahezu unerreichbares. Deshalb mein Wunsch: Wenn er höre, dass irgendjemand abgesagt hätte, möge er bitte Bescheid geben. Albrecht Menzel öffnete daraufhin den Kasten seiner Violine und holte zwei Karten heraus. Seine allerletzten, seine Reserve.
Die Metapher, Architektur sei gefrorene Musik, ist abgegriffen, aber der erste Blick auf die "Elphi" nicht nur außen, sondern auch innen, bestätigt Schopenhauers Aphorismus besonders beim Schumann-Konzert. Das Werk ist kein Virtuosenfutter, sondern eine emotional tiefschichtige Komposition, auf- und absteigend in den Phrasierungen, passend zu den in Stufen angelegten Zuschauerebenen des Saales. Jeder Platz war besetzt, die Spannung intensiv, der Jubel herzwärmend.
Sind wir bereits Kultur-entwöhnt?
Fünf Jahre sind vergangen seither, die Elbphilharmonie feiert ihr kleines Jubiläum, jedoch genießt sich nichts mehr so einfach, so leicht und unkompliziert wie damals: weder in der "Elphi" noch in den anderen Konzerthallen, Theatern oder auf Festivals. Wie oft hingen wir früher in Telefonschleifen oder standen nächtelang an, um das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker live erleben zu dürfen! Und diese Jahreswende? Täglich erschien vorab auf der Facebook-Timeline Werbung, Restkarten seien verfügbar. Selbst für das, so die Vorgabe, nur halb zu besetzende Festspielhaus in Bayreuth gab es plötzlich Tickets. Fast immer ausverkauft, löst diese Selbstverständlichkeit sich plötzlich auf wie so viele andere in der Pandemie.
Ein mögliches Ende formulieren Virologen gleichermaßen behutsam wie skeptisch für die Zeit nach dem kommenden Winter, nur stellen wir uns die bangen Fragen: Sind wir nach zwei Jahren Ausnahmezustand des analogen Kulturgenusses bereits "entwöhnt"? Und wenn ja, warum? Behindern die Masken so sehr, dass wir lieber zu Hause bleiben? Schreckt die Angst vor der Ansteckung, gepaart mit unserem Wissen darum, dass einige Länder wie Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen aus Vorsicht sämtliche Kultureinrichtungen geschlossen halten? Belästigt uns die Koordination von Ticket, Impfung und, wie in Hamburg oder Berlin jetzt Usus, von zusätzlichen Tests? Ist es zu aufwändig, die passenden digitalen Zeugnisse, Corona-App, Luca-App und wie sie alle heißen, zu "updaten"? Fehlt uns maskiert vielleicht auch das Sehen und Gesehenwerden? Quält das Tabu, in den Pausen, den Sekt in der einen Hand, mit der anderen die eines Freundes zu schütteln? Möchten wir der Sehnsucht nach der früheren Unbeschwertheit entgehen? Und, ganz profan: Kaufen wir keine Karten mehr, weil wir nicht wissen, ob die Künstler oder wir selbst dann gesund sein werden?
Es liegt nicht mehr am Geld

Es ist eine Mélange aus all diesen Gründen, weshalb auch das dritte Jahr der Pandemie trotz der Impfungen und ihrer Auffrischungen für die Kultur ein schwieriges werden wird, für uns, die Besucherinnen und Besucher, ebenso wie für die 260.000 Unternehmen und die einst mehr als drei Millionen Erwerbstätigen, die im Kultur- und Kreativsektor arbeiteten. Mittlerweile hat sich diese Zahl um ein Drittel verringert.
Es liegt, da sind sich die Kulturverbände und die Kulturschaffenden einig, nicht mehr am Geld. Deutschland hat die Kulturinstitutionen und auch viele Künstler besser und reicher unterstützt als alle anderen Länder. Zwei Milliarden für den Neustart Kultur und über zwei Milliarden Sonderfonds für Künstler und ihre Projekte - davon können Briten oder Amerikaner nur träumen, von Osteuropäern ganz zu schweigen. Die Kulturschaffenden fürchten vielmehr eine Entwöhnung eingespielter Rituale: den Theaterbesuch als Geburtstagsgeschenk, das Konzert zwischen den Jahren, die Sommerfestivals als Urlaubsziele. Man ging ins Kino, weil Freunde den Film empfohlen hatten. Nur werden die Empfehlungen immer seltener. Manche Obsessionen werden überprüft, auch das Gewohnte löst sich nach fast zwei Jahren Ausnahmezustand auf. Streamingdienste sind deshalb die großen Gewinner dieser Pandemie. Wie sehr korrumpiert uns die Bequemlichkeit, zu Hause bedient zu werden, in immer besserer Qualität?
- Teil 1: Sind wir bereits Kultur-entwöhnt?
- Teil 2: Die Hoffnung auf Normalität
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