Norbert Frei über das Kriegsende, Demokratie und Renazifizierung
Wie gelang nach Kriegsende der Neuanfang zwischen Schuld und Erleichterung? Die Funktionseliten der NS-Zeit waren die Funktionseliten der Adenauerzeit, sagt der Historiker Norbert Frei im Interview.
Am 8. Mai 1945 wurden die Waffen niedergelegt, mit der bedingungslosen Kapitulation war das nationalsozialistische Deutschland besiegt. Sechs Jahre hatte der Zweite Weltkrieg gedauert. Nach Kriegsende, nach dem Holocaust, millionenfachem Mord in Gaskammern war alles zerstört: Großstädte, menschliche Seelen, Strukturen.
Wie war der politische Neuanfang möglich? Der Historiker Norbert Frei beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Verbrechen der deutschen NS-Vergangenheit, immer wieder aus unterschiedlichsten Perspektiven. Gerade erschienen ist sein jüngstes Buch "Einreden. Zu Zeitgeschichte und Zeitgenossenschaft". Auch darüber spricht Norbert Frei in NDR Kultur à la carte mit Janek Wiechers.
Herr Frei, nach zwölf Jahren NS-Terror, nach sechs Jahren verheerendem Krieg kam 1945 die Kapitulation. Deutschland lag am Boden, physisch wie ideologisch. Wie hat die Mehrheit der Deutschen die bedingungslose Kapitulation erlebt? Waren die Menschen erleichtert, dass dieser Albtraum nun auch für sie ein Ende hatte? Oder welche Gefühle haben überwogen?
Norbert Frei: Ich würde sagen, es waren in jedem Fall sehr gemischte Gefühle. Natürlich gab es alle Formen psychischer Reaktionen, zu denen Menschen in solchen Momenten großer Erschütterung fähig sind. Es gab Tränen der Erleichterung wie der Enttäuschung. Es gab Freudentränen, dass man am Leben geblieben war. Es gab eine übermächtige Erschöpfung ebenso wie Empfindungen einer großen inneren Lehre, und dass einem schlagartig bewusst war, wie sinnlos dieser Krieg gewesen ist. Aber es gab auch die Wut, die Verzweiflung, den Hass der ideologisch nach wie vor Verbohrten und Verblendeten. Daneben stand wiederum die Dankbarkeit, die diejenigen empfanden, die plötzlich begriffen haben und das bald in diese Formel bringen sollten: "Wir sind noch einmal davongekommen".
Neben solcher Vorsicht, neben existenzieller Verunsicherung gab es auch blanke Furcht vor dem, was kommen würde, vor den Siegern, angesichts konkreter eigener Schuld oder Schuldgefühle. Vielen Deutschen, die sich nicht als die ganz großen Täter sahen, dämmerte, dass sie nicht ganz unkorrumpiert, nicht ganz unschuldig durch die sogenannte "große Zeit" gekommen waren. Es gab Ahnungen von Mitschuld, für die sich sehr schnell Ausflüchte und Rechtfertigungen fanden. Es ist dieses Mixtum compositum an Gefühlen, dass wir da sehen.
Ein ganz wichtiger Punkt, den Sie auch immer wieder in ihren Arbeiten benennen und erforschen, ist das Politikmachen mit der Erinnerung, mit der Auseinandersetzung der NS-Zeit. Vergangenheitspolitik nennen Sie das auch.
Norbert Frei: Ja, das ist das, was dann mit Beginn der ersten Bundesregierung passiert - die Bewältigung der frühen NS-Bewältigung. Man will die Folgen der Entnazifizierung, der politischen Säuberungen, soweit es geht, rückgängig machen. Das nenne ich Vergangenheitspolitik.
Sie sprechen in dem Zusammenhang auch von einer Liquidation der Entnazifizierung.
Norbert Frei: Das ist ein Wort, ein Zitat aus einer Debatte des Deutschen Bundestages zu diesem Thema. Wobei interessant ist hinzuzufügen, dass der Bundestag mit Blick auf die Entnazifizierungsgesetze überhaupt gar keine gesetzgeberische Zuständigkeit hatte. Denn die Kompetenz dafür lag bei den Bundesländern.
Diese Rückabwicklung der Entnazifizierung brachte Phänomene mit sich, dass schon ziemlich bald in den 50er-Jahren in fast allen relevanten gesellschaftlichen Sphären - Militär, Universitäten, Schulen, Polizei, Justiz, Gesundheitswesen, Wissenschaft, Kunst, Kultur und auch in der demokratischen Politik - wieder einst aktive Nationalsozialisten weiterwirken. Insofern gab es nach diesen ersten Entnazifizierungsversuchen personelle und institutionelle Kontinuitäten der NS-Zeit.
Norbert Frei: Ja, man kann es vielleicht so sagen. Die Funktionseliten der NS-Zeit, die Sie angesprochen haben in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, waren auch die Funktionseliten der Adenauer-Zeit. Das ist gar nicht zu bestreiten. In Wirtschaft und Wissenschaft, Militär, Kultur, überall kommen natürlich Leute, die, wie Konrad Adenauer mal in Bezug auf die Diplomaten gesagt hat, von der Sache von früher her etwas verstanden, wieder in Amt und Funktion.
Übrigens im Bereich der Politik eher später und verzögert: Die erste Garde nach 1949, das sind im Zweifelsfall Weimarer Demokraten. Schumacher, Adenauer, Heuss, das sind keine Menschen, die belastet sind, im Gegenteil. Das gilt gerade für den ehemaligen KZ-Häftling Schumacher, aber auch für Adenauer. Die waren wirkliche Antinazis. Trotzdem sind sie bereit, in ihren Parteien und auch in der Bundesregierung im Laufe der Jahre immer mehr auch diese Funktionseliten aus der NS-Zeit in die Politik zu holen. Das heißt, das zweite Kabinett Adenauer umfasst mehr politisch Belastete als das erste.
Es gibt vonseiten der alliierten Besatzungsmächte oder der Alliierten Hohen Kommission gesehen, geradezu eine Form der Renazifizierung, die da stattfindet. Aber, und das ist das Wichtige bei allem, was man aus heutiger Sicht und auch zum Teil schon damals als empörend empfunden hat: Die Vorstellung wäre völlig falsch anzunehmen, dass diese wieder eingestellten Diplomaten, um das Beispiel Auswärtiges Amt zu nehmen, unter Adenauer NS-Diplomatie betrieben hätten.
Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit einem gewaltigen Anpassungsprozess dieser Funktionseliten zu tun, der am Ende auch die Frage überhaupt beantworten lässt, warum diese Demokratie vergleichsweise rasch funktioniert hat. Die sind bereit, sich anzupassen, sich einzufügen. Ob schon aus tief innerstem Herzen oder nur oberflächlich, das spielt für das Funktionieren in der Demokratie erstmal keine so große Rolle. Das ist der Ausgangspunkt für die gelungene Transformation der Volksgenossen der NS-Zeit in die Bürger der Bundesrepublik.
Das Gespräch führte Janek Wiechers. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.
Schlagwörter zu diesem Artikel
Sachbücher
