Wohnungsnot? Studierende schlagen nachhaltiges Aufstocken vor
Das Team der TH Lübeck und der TU Istanbul will den diesjährigen Solar Decathlon gewinnen, den weltweit größten Hochschulwettbewerb für solarbetriebene Architektur. Die Idee: Ein Aufbau für Wohnblocks aus den 50er-Jahren.
Noch zwei Wochen haben sie Zeit, dann muss alles fertig sein und nach Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) zum Solar Decathlon. Gerade lässt sich in der großen Halle am Ufer der Trave die Vision - der zweistöckige Aufbau für Wohnblocks - der Studierenden schon erahnen: Für die unteren Etage sind die Boden- und Deckenelemente größtenteils montiert, viele Holzwände stehen schon und geben einen ersten Eindruck, wie die Wohnung später aussehen wird. Bis dahin haben die Studierenden noch viel zu tun: Eine Gruppe Studentinnen dämmt die Außenwände mit Stroh, Paul Tschense und sein Team-Kollege schrauben das nächste Bodenelement zusammen. Auf dieser Baustelle müssen die Architektur- und Bauingenieur-Studierenden selbst anpacken, eine neue Erfahrung für Paul: "Das ist schon besonders, dass man hier wirklich mit bauen kann. Normalerweise plant man ja nur und jemand anders baut."
Voller Körpereinsatz für die Wärmedämmung
Seine Team-Kollegin Inken Bork boxt inzwischen zusammen mit ihrer türkischen Kollegin Zeynep Çetin auf einen Strohballen ein - damit die Dämmung optimal funktioniert, muss das Stroh so eng gepresst wie möglich in die Außenwände gebracht werden. Das erfordert auch mal vollen Körpereinsatz. Insgesamt arbeiten 60 Studierende aus Lübeck und Istanbul an dem Projekt. Das bringt ihnen Bauerfahrung und ist auch einen Realitätscheck, erzählt Inken: "Wir sind schon ganz oft an dem Punkt gewesen, dass wir gesagt haben: 'Das haben wir zwar ganz schön gezeichnet, aber jetzt stehen wir hier und es funktioniert nicht.'" Unterstützt werden die Studierenden von Professor Heiner Lippe. Seine Lehrmethode: Learning by doing. "Es ist eine persönliche Erfahrung, dass wenn man die Lösung sucht, man die dann auch findet", schmunzelt Lippe.
Eine Million Wohnungen durch Aufstocken
Und so nähert sich die Konstruktion in der Lübecker Halle jeden Tag mehr dem Plan der Studierenden: Ein zweistöckiger Aufsatz mit Wintergarten und Terrasse für alte Wohnblocks aus den 50er-Jahren. "Vertikale Nachverdichtung" lautet der Fachbegriff dafür, also einfach Stockwerke draufsetzen. Das könnte eine Lösung für die weiterwachsende Wohnungsnot sein. Denn: Laut Studien müssten in Deutschland jährlich rund 400.000 Wohnungen neu gebaut werden. Allein das Aufstocken von Wohngebäuden aus den 50er- bis 90er-Jahren könnte mehr als eine Million Wohnungen bringen, so das Forschungsergebnis der TU Darmstadt und dem Pestel-Institut. Der Vorteil: Bei der Nachverdichtung kann bestehende Infrastruktur genutzt werden. Es müssen also keine neuen Straßen gebaut, keine neuen Strom-, Wasser und Telefonleitungen gelegt werden. Auch soziale Strukturen sind bereits da: Supermärkte, Schulen, Apotheken und vieles mehr.
Gegner befürchten Zerstörung historischer Stadtbilder
Doch Gegner von Nachverdichtung befürchten, die Aufbauten zerstörten beispielsweise historische Stadtbilder und verstärkten Gentrifizierung. Auch Professor Lippe sieht diese möglichen Konflikte in bestehenden Wohnblocks. "Dieser soziale Aspekt ist ganz wichtig: Was sagen denn die Leute, die dort schon wohnen dazu, dass ihnen auf einmal noch mal die gleiche Menge an neuen Bewohnern aufs Dach rückt. Und damit muss man ganz vorsichtig umgehen." Die Studierenden haben daher einen Aufbau aus fünf Modulen entworfen, der angepasst werden kann, je nach den Bedingungen und Bedürfnissen vor Ort. Und der dabei rollstuhlgerecht und nachhaltig ist: Das Stroh für die Wärmedämmung ist aus der Region, vieles ist aus Holz und Strom soll durch Solarpaneele erzeugt werden.
Botschaft für nachhaltiges Bauen
Damit will sich das Team aus Lübeck und Istanbul beim 20. Solar Decathlon gegen 17 andere internationale Teams durchsetzen. "Wir werden Erster natürlich", lacht Professor Lippe. "Ich glaube, wir schaffen das. Wir machen da schon eine ganz gute Arbeit." Einen kleinen Gewinn konnten die Studierenden schon im Voraus einstreichen: Ihr Haus soll auch nach dem Wettbewerb in Wuppertal bleiben, "als Botschaft für nachhaltiges Planen und Bauen zusammen mit Studierenden", berichtet Lippe stolz. Und das nicht nur als Anschauungsobjekt, sondern als Wohnung für Mitarbeitende der Uni Wuppertal. "Das finde ich spannend", sagt Architekturstudent Paul, der vom ersten Strich an dabei ist. "Ich würde natürlich auch gerne mal mit den Leuten dann reden, wie es denen gefällt und ob das alles auch so genutzt wird, wie wir uns das gedacht haben. Ob auf dem Dach, dann auch wirklich Gemüse angebaut wird."
Erst mal muss das Haus aber fertig werden. Und dafür haben Paul, Inken und ihr Team noch viel zu tun.
