Neue Dolmetscher-Richtlinie für Gehörlose wird zum Problem
Die Gebärdensprachübersetzung soll laut einer neuen Richtlinie nur noch in Einzelfällen in Präsenz erfolgen. Die Online-Alternative funktioniert für die Gehörlosen in der Praxis allerdings nicht gut.
Über 1.700 gehörlose Menschen arbeiten in Schleswig-Holstein laut der Einschätzung des Gehörlosenverbandes. Einer von ihnen ist Nils Jensen. Er ist Erzieher in Heide in einer Einrichtung für mehrfach behinderte Menschen. Jensen hat auch viele hörende Kollegen, mit denen er sich austauschen muss. Insbesondere bei Teammeetings, Diskussionsrunden oder Sicherheitseinweisungen benötigt er seine Dolmetscherin Corinna Kassien. Sie ist die Schnittstelle zwischen ihm und seinen hörenden Kollegen.
Online-Dolmetschen soll laut Richtlinie Vorrang haben
In der Vergangenheit hat Nils Jensen einmal jährlich beim zuständigen Integrationsamt in Schleswig-Holstein sein jährliches Budget für seine Dolmetscherin beantragt und konnte anschließend frei entscheiden, wann er sie vor Ort benötigt. Dann konnte Jensen sie nach seinem freien Willen bestellen. Das hat sich nun geändert. Bereits im Juni vergangenen Jahres hat das Sozialministerium die betreffende Richtlinie geändert.
"Sie besagt, dass die Dienstleistung des Dolmetschens grundsätzlich über Datenübertragung, also online, wahrzunehmen ist", schreibt das Sozialministerium auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein. Seit dem 1. Januar 2022 setzt das zuständige Integrationsamt diese Regelung auch um. Nils Jensen muss nun für jeden Einzelfall, in dem er seine Dolmetscherin benötigt, eine Genehmigung beim Integrationsamt einholen.
Lohn für Dolmetscher zu niedrig?
Das Integrationsamt genehmigt das Bestellen eines Dolmetschenden, wenn zum Beispiel eine erstmalige Arbeitsplatzeinweisung, Fortbildungen oder Personalgespräche anstehen. Dann könnte Nils Jensen in der Theorie seine Dolmetscherin Corinna Kassien bestellen und würde das nötige Geld dafür vom Integrationsamt erhalten. Doch das verhindert wiederum die neue Fahrtkostenpauschale, wonach das Integrationsamt maximal eine Stunde der An- und Abreise zahlt.
In ländlichen Regionen gibt es aber nach Angaben von Corinna Kassien so gut wie keine Dolmetschenden. Die Gehörlosen dort hätten nach dieser Regelung überhaupt keine Möglichkeit, einen Präsenz-Dolmetscher zu bekommen. "Wenn man es nachrechnet, bleibt ungefähr ein Stundensatz von 20 Euro netto für den Dolmetscher übrig. Und dafür können wir Dolmetscher nicht arbeiten. Das ist unmöglich." Ein Dolmetschender würde nur kommen, wenn entweder der Arbeitgeber oder der Gehörlose selbst die Differenz zahlt.
Sozialministerium verspricht sich mehr Teilhabe für Gehörlose
Durch die Richtlinienänderung sollen laut Sozialministerium mehr gehörlose Arbeitnehmer Zugang zu einem Dolmetscher bekommen. Das Ministerium schreibt dazu: "Durch den Vorrang des Online-Dolmetschens können zum Beispiel eingesparte Fahrtkosten entsprechend für diese Zwecke genutzt werden und somit mehr Betroffene gefördert werden. Auch um die zeitlichen Kapazitäten der Gebärdendolmetscher zu schonen, bietet es sich an, die Dienstleistung des Dolmetschens online zu erbringen."
Für Nils Jensen und auch für seine hörenden Kollegen ist das Dolmetschen über einen Videochat wenig praktikabel. Er muss sich dabei auf den Bildschirm konzentrieren und bekommt von der Atmosphäre im Raum nichts mit. Hinzu kommt, dass die Verbindung oft schlecht ist und seine Dolmetscherin nicht hinterherkommt, während seine hörenden Kollegen schon beim nächsten Themenabschnitt sind.
Gehörlosenverband warnt vor Arbeitsplatzverlust
Wenn Corinna Kassien für Nils Jensen dolmetscht, übersetzt sie nicht Wort für Wort. Sie übersetzt Sinneinheiten und muss auch Emotionen übersetzen. "Es ist ein Unterschied, wenn ich sage: 'Ich habe keine Lust mehr', mit einem Lächeln im Gesicht oder wenn ich sage: 'Ich habe keine Lust mehr', mit einer wütenden Mimik", erklärt Kassien. Wenn sie online zugeschaltet ist, sieht sie auf dem Bildschirm in der Regel nur Nils Jensen und nicht auch die Gesichter der anderen Kolleginnen und Kollegen. So bekommt Kassien über den Laptop die Stimmung im Raum nicht vollständig mit.
Durch das Online-Dolmetschen kann Nils Jensen nicht mehr hundertprozentig an Teammeetings oder Fortbildungen teilnehmen. Noch komplizierter wird es, wenn er etwas in den Besprechungen mitteilen möchte. Dann müssen seine hörenden Kollegen leise sein und darauf warten, dass die Dolmetscherin über den Laptoplautsprecher übersetzt, was Nils sagt. "Die berufliche Integration wird somit vom 'Integrationsamt' aktiv behindert!", schreibt die Vorsitzende vom Gehörlosenverband Schleswig-Holstein, Cortina Bittner.
Noch im Mai soll ein Austausch stattfinden
Nils Jensen und auch der Gehörlosenverband fordern: Zurück zu den alten Regelungen. Die Gehörlosen sollen wieder selbst entscheiden dürfen, ob und wann sie Präsenz- beziehungsweise Ferndolmetscher bestellen. "Außerdem müssen die Dolmetscherhonorare grundsätzlich so gestaltet sein, dass sich zu den vorgegebenen Preisen auch tatsächlich Dienstleister am Markt finden lassen", fordert Cortina Bittner. Bei dem Treffen mit der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung, Michaela Pries, werden der Gehörlosenverband Schleswig-Holstein und die Landesarbeitsgemeinschaft der Freiberuflichen Dolmetscherinnen und Dolmetscher für Deutsche Laut- und Gebärdensprache mit dabei sein.
