Teilmobilmachung in Russland: "Taktik Putins, Angst zu machen"

Stand: 21.09.2022 15:49 Uhr

Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine Teilmobilmachung angeordnet - es ist die erste des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Rede ist von 300.000 Reservisten. Was heißt das für den Krieg in der Ukraine? Was sagt das über Russland aus? Das sei ein Teil der Taktik Putins, Angst zu machen, meint Carsten Schmiester, Host des NDR Info Podcasts "Streitkräfte und Strategien", im Interview mit NDR MV Live.

Um Klarheit in diese ganzen Begrifflichkeiten reinzubekommen - was bedeutet Teilmobilmachung?

Carsten Schmiester: "Das bedeutet eben nicht Generalmobilmachung - es werden also nicht alle Männer im wehrfähigen Alter einberufen. Das war immer mal diskutiert worden, ob Putin das vielleicht macht. Da gab es dann die Sorge, dass es innerhalb Russlands großen Widerstand geben würde. Jetzt also nur ein Teilmobilisierung. Putin beschränkt sich zumindest nach seiner Ansprache im Fernsehen auf Leute, die schon gedient haben, also auf Reservisten. Die hätten Erfahrung und besondere Fähigkeiten für eine "militärische Spezialoperation". Das Wort Krieg hat Putin immer noch nicht benutzt.

Wir haben es jetzt mit 300.000, vermutlich jüngeren Männern zu tun, die jetzt einberufen werden. Sie werden aber auch nicht sofort an die Front geschickt werden können. Denn Putin hat auch gesagt, dass passiert erst, nachdem sie eine militärische Ausbildung erhalten haben. Ich denke, dabei handelt es sich um eine Auffrischung. Das sind Leute, die schon etwas länger aus der Uniform heraus sind. Die müssen da erst mal wieder rein. Auch wenn man jetzt gerade einen kräftigen Schreck kriegt: Es wird nicht gleich morgen an der Front in der Ostukraine die große Veränderung geben."

Du hast es gerade gesagt: Das Wort "Krieg" benutzt Putin immer noch nicht, aber dafür hat er in seiner Ansprache auch Sätze verwendet wie "Der Westen wolle Russland zerstören". Er spricht von nuklearer Erpressung. Wie sind aus Deiner Sicht diese deutlichen Worte dann zu interpretieren?

Schmiester: "Ich glaube, er hat zwei Ziele damit. Zum einen nach innen. Putin verstärkt sein Narrativ, also die Geschichte, die er den Russen erzählt, vom bösen Westen, der Russland praktisch dazu gezwungen hat, sich selber zu schützen und die Ukraine in einer Spezialoperation ja auch nicht komplett, sondern teilweise anzugreifen, um dort lebende Russen zu schützen. Das ist so das Narrativ nach innen. Wir sind die Guten. Wir wehren uns, der böse Westen, der ist an allem schuld. Nach außen hin - und das haben wir eben nicht zum ersten Mal erlebt - droht er damit indirekt wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen.

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Wir wissen, Russland ist eine Atommacht. Wir reden wahrscheinlich noch nicht über strategische Atomwaffen, sondern taktische Atomwaffen. Das sind begrenzte Wirkungswaffen, die man auf dem Gefechtsfeld einsetzen kann. Das wäre sozusagen der Versuch, einen Atomkrieg nicht gleich groß werden zu lassen, aber schlimm genug. Und das weiß natürlich keiner. Deshalb auch der Schreck, der uns allen in den Gliedern sitzt, wenn man erst mal mit "kleinen" Atombomben anfängt. Wer stoppt den Einsatz der großen Atombomben? Das ist eine Taktik, die Putin schon öfter in diesem Krieg angewandt hat, um uns Angst zu machen. Die Reaktionen im Westen sind relativ klar. Die Politiker, die Militärs, alle sagen: Wir können ja zurückschlagen. Also: Wer den Atomkrieg beginnt, stirbt als Zweiter. Das weiß auch Putin.

Gibt es eine weitere Eskalationsstufe? Ist das am Ende ein Zeichen der Stärke oder ein Zeichen der Schwäche, das Putin mit solchen Aussagen, mit solchen Reden sendet?

Schmiester: "Es soll ein Zeichen der Stärke sein. Es wird aber jetzt schon in den Reaktionen überwiegend als Zeichen der Schwäche ausgelegt. Ganz klar: Wir wissen, dass die ukrainische Armee eine überraschend erfolgreiche Offensive in den vergangenen Tagen und Wochen im Osten des Landes gefahren hat. Dort ist es zu Fluchtbewegungen russischer Truppen gekommen und wahrscheinlich auch zu hohen Verlusten. Wir wissen, dass der ganze Krieg nicht so läuft, wie er aus russischer Sicht geplant war, dass es sehr hohe Verluste gegeben haben muss. Der russische Verteidigungsminister Schoigu hat heute von knapp 6.000 getöteten russischen Soldaten gesprochen. Und es gibt andere Zahlen, die wir haben, die gehen locker auf das Zehnfache. Alle wissen, Putin hat eigentlich zu wenig Soldaten. Er hat ein absolutes Personalproblem und muss diese Einheiten wieder auffüllen, sie neu organisieren, nachdem sie so in den Rückzug gezwungen worden sind. Das alles ist Zeichen der Schwäche. Und wer dann laut bellt, so lese ich das, kann wahrscheinlich gar nicht mehr richtig zubeißen."

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Welche Auswirkungen hat das für die Menschen in Russland? Macht sich ein Gefühl der Sorge in der Bevölkerung breit? Ist möglicherweise auch mit einer Flüchtlingsbewegung der Russen zu rechnen, die keine Lust auf diesen Krieg haben. Was erwartest Du da?

Schmiester: "Es sind ja schon sehr sehr viele weg. Weit über 400.000 Russen sind aus dem Land gegangen seit Beginn des Krieges. Genaue Zahlen haben wir nicht. Das sind auch sehr viele junge Leute, die berechtigte Sorge gehabt haben, in den Dienst der Armee gezogen zu werden. Das wird sicher weitergehen. Ansonsten ist es für uns, die wir von außen auf Russland gucken, sehr schwer, ein Bild von der Lage zu gewinnen. Allgemein wird gesagt, jede Mobilmachung - auch eine Teilmobilmachung - ist ein großes innenpolitisches Risiko für Putin. Denn damit kommt der Krieg näher an die Familien ran. Deren Söhne werden plötzlich wieder gezogen werden, viele von ihnen sterben. Und damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Widerstand, der bislang in Russland massiv unterdrückt wird, dass er sich irgendwann nicht mehr so unterdrücken lässt. Also: Putin spielt auch innenpolitisch ein sehr gewagtes Spiel, weshalb eben auch viele sagen, der steht mit dem Rücken an der Wand."

Ist dieses Risiko dann am Ende nicht zu hoch, wenn man bedenkt, dass Russland gerade etliche Wirtschaftssanktionen ertragen muss? Jetzt macht er sich selbst stark in puncto Manpower, indem er mehr Leute verpflichtet. Aber in puncto Technik wird Putin nicht auf einem ähnlichen Stand fahren. Also: hat er eigentlich genug Technik, um diesen Krieg dann weiterzuführen?

Schmiester: "Nicht nur das ist ein Problem. Also die bloße Einberufung von 300.000 Leuten löst nicht die großen Probleme, die wir sehen. Putin hat zu wenig Technik. Es ist die Rede von über 1.500 Panzern, die schon auf russischer Seite verloren gegangen sind in diesem Krieg. Wir haben gesehen, logistisch ist die russische Armee absolut schwach. Das heißt: Die Versorgung mit Nachschub hakt überall. Da ist man viel auf Eisenbahnen angewiesen. Die Ukraine haben es im Osten geschafft, Knotenpunkte zurückzuerobern. Da stockt einfach der Nachschub und ein Panzer, der kein Benzin, keinen Diesel im Tank hat, der fährt eben nicht.

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Das ist das materielle Problem. Das wird durch 300.000 Mann nicht gelöst. Und dann haben wir das Problem mit der Armee selber. Da ist bekannt, dass die russische Armee ein großes Defizit hat, was Unteroffiziere angeht. Die haben Offiziere, die haben Mannschaftsdienstgrade. Aber das, was Nato und westliche Staaten ausmacht, nämlich gut ausgebildete Unteroffiziere, die auch selber führen können und dürfen, die fehlen der russischen Armee. Und die machen sie so unflexibel. Und die machen die Ukrainer auch so stark, weil die sich mittlerweile westliche Taktiken angeeignet haben und eben auch auf diesem Unteroffizier-Level sehr, sehr gut ausgebildet sind. All das sind Probleme, die bleiben, und die Moskau nach wie vor. schwächen."

Nun war diese Rede schon am Dienstagabend erwartet worden, kam jetzt ein bisschen später. Das Ganze ist jetzt quasi einen Tag nach der Ankündigung von sogenannten Referenden erfolgt. Das heißt: Referenden in den Regionen Cherson und Donezk zum Beitritt zur Russischen Föderation. Das hat so ein bisschen Déjà-Vu-Charakter. Wenn man auf die Annexion der Krim 2014 zurückschaut, ist das so ein bisschen "Schema F", das Russland jetzt in dieser Situation fährt?

Schmiester: "Ja, klar, das ist "Same again", wie man so schön sagt. Das kennen wir alle schon. Der Hintergedanke ist natürlich in dem Moment, so ein Referendum in Anführungsstrichen. Die westliche Gemeinschaft sagt, unter dem Druck der Besatzung kann man keine Referenden abhalten. Wir akzeptieren das nicht. Aber Russland wird behaupten, das ist jetzt russisches Territorium. Und damit hätte Putin aus seiner Sicht eine Rechtfertigung dafür, Angriffe der Ukraine auch auf diese Gebiete – es sind ja nicht nur Luhansk und Donezk, es ist ja auch Cherson als russisches Territorium zu werten - und Putin kann entsprechend hart zuschlagen. Die Frage ist nur, kann er es wirklich? Nuklear? Da sagen eigentlich alle, das muss man ernst nehmen. Die Drohung aber wird vermutlich eine Drohung bleiben, weil Putin weiß, dass er so etwas nicht gewinnen kann. Und ja, konventionell haben wir darüber gesprochen, dass die russische Armee schwach ist - ob mit oder ohne 300.000 zusätzliche Soldaten."

Wenn Putin das Ganze als Angriff auslegen könnte und wenn die Ukraine im weiteren Kriegsverlauf sagt: Okay, wir nutzen dieses Zeichen der "Schwäche" nach außen, um weiter voranzukommen. Droht uns dann nicht eine weitere Eskalation in den nächsten Monaten? Was erwartest Du?

Schmiester: "Die Eskalation droht - das kann man nicht vom Tisch reden. Alle Experten sagen aber, sie ist nicht besonders groß, einfach weil Putin schwach ist, auch wenn er gerade heute mal wieder den Starken gibt. Es hat Angriffe der Ukrainer, zu denen sie sich mittlerweile auch bekennen, auch auf Ziele auf der Krim gegeben. Das war ja eigentlich nach der russischen Lesart ein Angriff auf russisches Territorium und es ist nicht zu einer großen Eskalation, nicht zu brutalen Gegenschritten gekommen. Ganz im Gegenteil: Die Offensive lief, die Russen sind dann aus dem Osten geflohen.

Man muss ganz klar sagen, es ist ein Teil der Taktik Putins, Angst zu machen, sich aufzubauen, als jemand mit einer Stärke, die er in Wirklichkeit nicht hat. So eine Art Scheinriese. Je näher man hinguckt, desto kleiner wird das Ganze. Das heißt jetzt nicht, dass ich mir persönlich nicht auch Sorgen mache. Aber man muss da wirklich kühl bleiben und aus der Distanz draufgucken und sich dann vielleicht auch auf die vielen Experten verlassen. Die sagen, auszuschließen ist nichts, aber wahrscheinlich ist diese Eskalation auch nicht. Wahrscheinlich ist es eher, dass Putin wirklich auch innenpolitisch zunehmend unter Druck gerät und jetzt diese Kraftmeierei einfach braucht, um stehenzubleiben. Aber Putin wackelt natürlich trotzdem, auch wenn wir es jetzt vielleicht auf den ersten Blick so heute nicht sehen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Mittagsschau kompakt | 21.09.2022 | 12:00 Uhr

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