Ein Kabeljau unter Wasser. © Colourbox Foto: -

Forschungsprojekt ohne Probanden: Dorsch vergeblich gesucht

Stand: 14.11.2022 05:41 Uhr

Wie der Dorsch mit den aktuellen Umwelteinflüssen in der westlichen Ostsee umgeht, wollen Wissenschaftler des Rostocker Thünen-Instituts für Ostseefischerei herausfinden. Deswegen haben sie im vergangenen Jahr ein einzigartiges Forschungsprojekt gestartet. Allerdings finden sie keine Dorsche, die sie mit Sendern ausstatten können.

von Franziska Drewes

Ort der Mission ist ein Hangbereich in der Ostsee westlich vor Boltenhagen. Drei Kilometer vom Strand ist das Wasser bereits 24 Meter tief, es gibt Steinfelder, Seegraswiesen und Sandflächen. Eigentlich ist dieser Ort ein perfekter Lebensraum für Dorsche. Hier wollten die Wissenschaftler mehrere Exemplare dieser Fischart fangen, um sie mit Sendern auszustatten, erzählt Dr. Uwe Krumme. Der Fischereibiologe leitet das Forschungsprojekt. "Bisher haben wir ein Tier gefangen, das groß genug war, um es besendern zu können. Das war ein Weibchen mit 50 Zentimetern. Das war im Januar 2022. Danach haben wir tatsächlich in diesem Gebiet fast vier Monate lang mit Fischfallen versucht, Dorsche von 40 Zentimetern und größer zu fangen". Dies ist bislang gescheitert.

Sauerstoffarme Zonen machen Leben unmöglich

Im Untersuchungsgebiet wurden an zwölf Positionen auch mehrere Messsonden befestigt. Sie messen regelmäßig die Wassertemperatur, den Salz- und Sauerstoffgehalt. Anhand dieser Daten kann Dr. Uwe Krumme mit seinem Team Umweltbedingungen im Hangbereich exakt ablesen. "Und die sehen leider alles andere als so aus, dass man sagt, als Dorsch wäre das jetzt mein Paradiesgebiet". Die Messdaten zeigen, dass ab einer Wassertiefe von 17 Metern Sauerstoffmangel herrscht. Darüber ist Fischereibiologin Dr. Stefanie Haase, auch sie zählt zum Forscherteam, besonders erschrocken. "Die Dorsche können dort im Sommer schlichtweg nicht überleben. Mitte Juli hat das angefangen und ist zu einer sauerstofffreien Zone geworden und die hält bis in den späten Herbst bis Oktober, November an".

Wasser benötigt starke Stürme

Die Wissenschaftler des Thünen-Instituts für Ostseefischerei blicken nun regelmäßig auf die Wetterdaten im Herbst. Im vergangenen Jahr konnten sie beobachten, wie sich das Wasser erst mit dem vierten Herbststurm innerhalb weniger Wochen wieder durchmischt hat. Die Sauerstoffschichtungen wurden aufgebrochen und fast überall war wieder ausreichend Sauerstoff vorhanden. Partner des Forschungsprojektes ist das Leibniz-Institut für Ostseeforschung. Gemeinsam wollen die Wissenschaftler die Prozesse unter Wasser, die sie im vergangenen Jahr gemessen haben, rekonstruieren, um zu verstehen, wie sich die Schichten im Jahresverlauf bilden und auflösen, was genau in den einzelnen Schichten passiert und was das für den Lebensraum der Dorsche bedeutet, die dort eigentlich leben sollen. Die Forscher wollen auch herausfinden, mit welcher Stärke und Dauer und aus welcher Richtung die Stürme kommen müssen, damit sich das Wasser im Herbst wieder in allen Tiefen durchmischen kann.

Erstes Forschungsprojekt dieser Art

Zum ersten Mal überhaupt messen die Wissenschaftler kontinuierlich den Sauerstoffgehalt im küstennahen Bereich der westlichen Ostsee und das über einen längeren Zeitraum. Es liegen nur punktuelle Vergleichswerte aus anderen Studien vor. Dr. Stefanie Haase und ihre Kollegen wissen bereits, dass der Klimawandel die Bedingungen im Wasser mit beeinflusst. Die Sommermonate sind heißer als in der Vergangenheit. Das süßere und deshalb leichtere Oberflächenwasser der Ostsee wärmt sich im Sommer stark auf und hat deutlich andere Eigenschaften als das schwerere salzhaltigere Bodenwasser. Die Forscher nennen das eine "starke Schichtung".

Bakterien beeinflussen Sauerstoffgehalt

Im Oberflächenwasser nutzen die Mikroalgen das Licht und die Nährstoffe im Wasser und produzieren dort viel Sauerstoff, sterben aber irgendwann und sinken dann zum Meeresboden ab. Dort zersetzen Bakterien die Mikroalgen, dafür brauchen sie Sauerstoff und das ziehen sie aus dem umgebenen Wasser am Meeresboden. So sinkt der Sauerstoffgehalt am Boden über den Sommer immer weiter, bis nichts mehr da ist. Je mehr Mikroalgen von oben herunterrieseln und je abgeschlossener das Bodenwasser, umso schneller wird der Sauerstoff am Boden von Bakterien veratmet und fehlt dann für höhere Lebewesen, die dort atmen wollen. "Wenn dann zum Beispiel Algen zersetzt werden, die zum Meeresboden sinken, dann wird auch Sauerstoff gezerrt und wenn dieser nicht durch Verwirbelung von oben nachgereicht werden kann, dann bilden sich solche anoxischen Bedingungen". Wenn im Sommer kaum Wind weht, verstärkt sich die Schichtung also noch. Unklar ist, ob diese nahezu sauerstofffreien Zonen künftig dauerhaft vorkommen werden. Auszuschließen ist das nicht, sagt Dr. Uwe Krumme. "Wenn die Sommerphase künftig länger andauert, es noch heißer wird und es noch länger dauert, bis sich das Oberflächenwasser abkühlt und wir hätten im Herbst noch weniger Stürme, dann steigt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu keiner vollständigen Durchmischung mehr kommt." Sauerstoffreiche Zonen in den tiefen Wasserschichten sind aber für den Dorsch überlebenswichtig, weil er dort beispielsweise im Winter laicht.

Sauerstoffarmut sorgt für Nahrungsmangel

Noch wissen die Forscher nicht, wie das Leben auf dem Meeresboden vor Boltenhagen mit seinen Fischen, Krebsen, Muscheln und anderen wirbellosen Tieren mit den Sommerbedingungen klarkommt, wenn dort für mehrere Monate am Stück nahezu kein Sauerstoff vorhanden ist. Diese Tiere sind aber die Nahrungsquelle des Dorsches. Auch hier stehen Dr. Uwe Krumme und die Wissenschaftler vor einem großen Fragezeichen. "Wir wissen einfach nicht, wie die Wiederbesiedelungsdynamiken in diesen Bereichen sind." Offen ist auch, ob die Dorsche diese nahezu sauerstofffreie Zone im Sommer rechtzeitig verlassen und später wieder zurückkehren. Auch von dem bislang einzigen besenderten Dorschweibchen fehlt jede Spur. Es hat das Telemetriefeld wahrscheinlich spätestens im Sommer verlassen und ist seitdem nicht zurückgekehrt.

Langzeitprojekt mit vielen Fragezeichen

Forschungsleiter Dr. Uwe Krumme geht davon aus, dass das Projekt noch einige Jahre laufen wird. Viele entscheidende Fragen sind noch offen, die die Forscher klären wollen und müssen. Denn diese Antworten sind entscheidend für die Einschätzung der Lebensraumqualität und der Erholungschancen für den Dorschbestand der westlichen Ostsee. Auch Fischer und Angler könnten von den Ergebnissen profitieren, denn eine sichere wissenschaftliche Basis ist die Grundlage für eine nachhaltige Nutzung der Ressource Dorsch. Momentan darf der Dorsch nicht gezielt gefischt werden und auch Angler dürfen nur einen Dorsch pro Tag fangen - das gilt auch für 2023. Ab Dezember dieses Jahres wollen die Wissenschaftler noch einmal zum Hanggebiet vor Boltenhagen aufbrechen und versuchen, Dorsche zu fangen. Idealerweise soll mindestens 20 Tieren schonend ein Sender in die Bauchhöhle implantiert werden. Die Fische werden dort, wo sie hoffentlich gefangen werden, auch wieder ausgesetzt. Dorsche sind relativ standorttreu, erzählt Dr. Stefanie Haase. "Ich würde gerne sehen, ob die Dorsche im Jahresverlauf wiederkommen. Es wäre schön, zu sehen, ob es eine jährliche Wanderung gibt und wie die genau aussieht. Das würde uns sehr helfen." Ungewiss ist, ob die Wissenschaftler überhaupt so viele Daten sammeln können. Aber Projektleiter Dr. Uwe Krumme ist zuversichtlich und betont: "Wir Forscher sind Optimisten." Das Dorschprojekt wird vom Bund und von der Europäischen Union gefördert.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 14.11.2022 | 12:00 Uhr

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Fischerei

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