Ein junger aus der Ukraine geflüchteter Mann in einer Interviewssituation © NDR MV Foto: NDR MV

Anatoly Timshuk: "Wir hatten Angst um unser Leben"

Sendedatum: 20.06.2022 19:30 Uhr

Der Krieg in der Ukraine zwingt Millionen Menschen zur Flucht. Viele der Geflohenen sind nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Jeder einzelne, jede einzelne hat eine Geschichte. So wie Anatoly, der aus Butscha flüchtete und momentan in Schwerin lebt.

Anatoly Timshuk hatte eine besonders anstrengende Flucht hinter sich. Der 27-Jährige kommt aus der umkämpften Stadt Butscha. Er ist wegen seiner Kinderlähmung schwerbehindert, kann nur kurze Strecken mit einer Krücke zurücklegen. Dreieinhalb Tage verbringt er im Bunker, in Todesangst. Freiwillige Helfer bringen ihn an die polnische Grenze, von dort geht es nach Schwerin. Außer den wichtigsten Papieren kann der gelernte Sachbearbeiter nur seine Krücke retten. Seine Pläne: Er möchte in Deutschland Menschen mit Behinderungen helfen.

"Wenn man im Bunker sitzt und unter Beschuss ist, hat man eine große Angst. Die seelische Belastung kann man sich nicht vorstellen. Wir hatten Angst um unser Leben."

Kriegsbeginn in Butscha: Wir sind alle in Panik geraten"

Als der Krieg in der Ukraine im März ausbricht, lebt Anatoly in einer Wohnung. Kurz nach Kriegsbeginn wird das Nachbarhaus von einer Rakete getroffen und zerstört. "Wir sind alle in Panik geraten." Vor dem Haus stehen ukrainische Soldaten. "Wir - vor allem Behinderte - wurden gleich an der Straße abgeholt und in einem Bunker Sicherheit gebracht. Der Aufenthalt in Hauskellern wurde uns verboten, da es zu gefährlich war."

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Unter Beschuss: "Wir hatten Angst um unser Leben"

Die Situation im Bunker empfindet er als sehr unbequem und psychisch belastend. "Wir hatten große Angst, Angst um unser Leben." Natürlich habe er sich wie alle Sorgen gemacht, erzählt Anatoly. "Ich kann Ihnen die Gefühle nicht beschreiben, so schlimm war es. Wenn man im Bunker sitzt und unter Beschuss ist, hat man eine große Angst. Die seelische Belastung kann man sich nicht vorstellen. Wir hatten Angst um unser Leben. Ich hatte solche Angst und betete zu Gott, dass keine Rakete uns trifft."

Warten auf das Schweigen der Sirenen

Im Bunker bleibt Anatoly etwa dreieinhalb Tage. "Wir warteten die ganze Zeit während des Beschusses, dass die Evakuierung losgeht, bis die Sirene aufhört und uns gesagt wird, dass wir raus dürfen." Mit Hilfe von Militärangehörigen schafft er es aus dem Bunker und schließlich bis zu polnischen Grenze. "Die zivilen Hilfsorganisationen konnten mich nicht aus dem Bunker holen, weil geschossen wurde."

Endlich "Frei bewegen" in Europa

Ein junger Mann bringt Anatoly zur polnischen Grenze bei Przemyschl. "Er hat mich gefragt, wohin ich fahren möchte. Worauf ich antwortete: nach Deutschland. Er ist los, um jemanden zu finden, der nach Deutschland fährt. Eine Frau namens Stefanie ist auf mich zugekommen. Zwei Stunden später, nachdem ich mich erholt hatte und auch etwas gegessen hatte, hat sie mich abgeholt." Dass er "nach Europa gekommen" ist, macht ihn sehr dankbar, sagt Anatoly. Dadurch habe sich sein Leben verändert. "Ich kann mich frei bewegen, mit dem Rollstuhl oder der Krücke." Und hier werde ich nicht diskriminiert, niemand zeigt mit dem Finger auf mich wie in der Ukraine."

Fachmann für Social Media in Butscha

Vor Kriegsausbruch setzt sich der 27-jährige Fachmann für Social Media im Ministerium für Regionale Entwicklung für die Rechte von Behinderten und Barrierefreiheit ein. Die Qualifikation für Werbung in Sozialen Medien hat er bereits während seiner Ausbildung zum Sachbearbeiter absolviert. "Noch vor dem Krieg wurde uns gesagt, dass wir die notwendigsten Sachen bereit haben sollen: Wasser, Dokumente. Ich habe meine Krücke, das Telefon und ein paar Kleidungsstücke mitgenommen." Zurücklassen musste er seine Oma, seine Freundin und Freunde.

Bilder aus Butscha: "Das tut mir in der Seele weh"

Auch in Schwerin, wo Anatoly zur Zeit lebt, möchte er Menschen mit Behinderungen helfen und sie psychologisch unterstützen. "Ich möchte mich hier nützlich machen." Seine Erfahrungen möchte er zum Beispiel auf Konferenzen und Diskussionsrunden weitergeben und sein Land, die Ukraine bekannt machen. "Unsere Ukraine, wo Krieg geführt wird." Auch zum Sprachkurs hat er sich bereits angemeldet. "Es ist klar, dass man dafür Deutsch können muss". Anatoly versucht hier so wenig wie möglich Fernsehen zu schauen. "Wenn ich fernsehe, fühle ich mich wieder in Zeit in der Ukraine zurückversetzt." Bilder aus Butcha kann er nicht gut sehen. "Das tut mir weh, das tut mir in der Seele weh. Ich danke Gott, dass ich am Leben bin."

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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 20.06.2022 | 19:30 Uhr

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