Fall Kirakosjan in MV: Was wusste Manuela Schwesig?

Stand: 01.11.2022 06:00 Uhr

Gayane Kirakosjan trat 2017 in die SPD ein, nur vier Jahre später wurde sie Landtagskandidatin in Mecklenburg-Vorpommern. In Social-Media-Kontakten zeigte sie eine Nähe zur russischen Staatsspitze und vermittelte Interviews mit russischen Medien. Der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Dirk Friedriszik sagte dem NDR, er habe die SPD-Spitze früh vor Kirakosjan gewarnt.

von Frank Breuner, Redaktion Politik und Recherche (Kooperation mit Lagebild.media)

Sie ist verschwunden. Auch die SPD kann uns nicht sagen, wo sich Gayane Kirakosjan derzeit befindet. In einem letzten Facebook-Post Mitte April zeigte sich die ehemalige Landtagskandidatin lächelnd unter blühenden Aprikosenbäumen, allerdings ohne Ortsangabe. Nach ein paar Tagen wurde auch dieses Foto gelöscht - wie alle ihre Social-Media-Einträge. Im März dieses Jahres hatte Kirakosjan, die sich früher auch Diana Werk oder Gayane Werk nannte, nach ersten NDR Recherchen auf ihre Position als Nachrückerin für den Landtag Mecklenburg-Vorpommerns verzichtet.

Nur wenige Wochen später, nachdem eine SPD-Abgeordnete auf ihr Mandat verzichtete, wäre Kirakosjan tatsächlich Mitglied des Landtags in Schwerin geworden. In nur vier Jahren wird sie also vom Partei-Neuling zur Fast-Parlamentarierin und dann zu einem Phantom, das komplett von der politischen Bühne verschwindet. Wie kann das sein?

Das Phantom der SPD in Mecklenburg-Vorpommern

Der SPD-Landtagsabgeordnete Dirk Friedriszik © dpa-Bildfunk Foto: Bernd Wüstneck
Der frühere SPD-Landtagsabgeordnete Dirk Friedriszik sagt, er habe die Landesspitze der SPD vor Kirakosjan gewarnt.

In Ludwigslust treffen wir Dirk Friedriszik, er war von 2016 bis 2021 Landtagsabgeordneter für die SPD. Er habe nie verstehen können, warum diese "dubiose Frau", so Friedriszik wörtlich, in seiner Partei Karriere machen konnte. Und: Er will die Landesspitze der Sozialdemokraten vor Kirakosjan gewarnt haben - und zwar bereits im Jahr 2017.

Friedriszik lernte Kirakosjan im Jahr zuvor noch als Diana Werk kennen, als er sich für eine junge Armenierin einsetzte, die aus Deutschland abgeschoben werden sollte. Bei einer Besprechung kam Kirakosjan als Sachverständige dazu, doch statt der jungen Landsfrau zu helfen, soll sie die Sicht der Behörden in dem Fall unterstützt haben, erzählt uns Friedriszik. Anfang 2017 wendet sich Kirakosjan dann an ihn, weil sie ein Treffen mit der damaligen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) ausmachen will, es gehe um die Bundestagswahl und sei "dringend", schreibt sie Friedriszik in einer Textmessage, die dem NDR vorliegt.

Doch der schreibt stattdessen der damaligen SPD-Landesgeschäftsführerin Antje Butschkau; Kirakosjan sei "ein ganz faules Ei", Schwesig solle sich vor ihr hüten. "Sie (Butschkau, Anm. d. Red.) wollte mit Frau Schwesig reden und Frau Schwesig letztlich auch vor der Frau warnen, aber offensichtlich hat das keine Früchte getragen, wie man später gesehen hat", erzählt uns Friedriszik. Dabei habe Butschkau seine kritische Einschätzung von Kirakosjan bei mehreren Gesprächen geteilt. Auch Schwesig selbst will Friedriszik in persönlichen Gesprächen vor Kirakosjan gewarnt haben. 

Zweifel an Kirakosjans Verfassungstreue

Schwesig habe die Kritik offensichtlich nicht interessiert, meint Friedriszik. "Ich habe vor der Dame gewarnt, dahingehend, dass sie mir sehr dubios vorkam und ihre Auftritte in den sozialen Medien mehr als widersprüchlich waren und auch mehr als Anlass genug gaben, in Teilen sogar an ihrer Verfassungstreue zu zweifeln."

Immerhin zeigte sich Kirakosjan auf Fotos im Netz mit autokratischen Politikern ihres Geburtslandes Armenien und teilte auf Facebook Statements von Wladimir Putin. Warum hat die Ministerpräsidentin und SPD-Landesvorsitzende Schwesig nicht auf die Warnungen ihres Parteigenossen reagiert?

Auch dazu gibt es keine Stellungnahme der Sozialdemokraten und ihrer Landesvorsitzenden. Tatsache ist: Kirakosjan, die einige Jahre lang CDU-Mitglied war, tritt im Frühjahr 2017 in die SPD ein. Sie kandidiert bald für die Stadtvertretung in Schwerin, vertritt den SPD-Landesverband als Delegierte auf einem SPD-Bundesparteitag, schafft es auf die Parteiliste zur Landtagswahl und wird noch Ende vergangenen Jahres in den Vorstand des Schweriner SPD-Ortsvereins gewählt, in dem auch die Ministerpräsidentin Mitglied ist. Als Kirakosjan bei der Ortsvereinssitzung ihre Bewerbungsrede hält, ist Schwesig anwesend. Ein Foto zeigt sie, wie sie Kirakosjan aufmerksam zuhört.

Sympathien für Putin

Screenshot von der Instagram-Seite von G. Kirakosjan © breuner Foto: screenshot
Auf ihrer Facebook-Seite postete Kirakosjan ein von Schwesig aufgenommenes Selfie.

Es war eigentlich alles öffentlich nachlesbar, meint Friedriszik. Alles auf Facebook oder Instagram zu finden. Kirakosjan machte keine Geheimnisse aus ihren Sympathien für Putin, den russischen Außenminister Sergej Lawrow oder einen armenischen Ex-Präsidenten, der als persönlicher Freund Putins bekannt ist. Und auch, dass sie in Mecklenburg-Vorpommern nach Interviewpartnern für russische und belarussische TV-Sender gesucht hat, war durchaus kein Geheimnis, meint Friedriszik. "Sie hat auch mir gegenüber Andeutungen gemacht, dass sie Kontakte mit russischen Sendern, beziehungsweise Medien vermitteln könnte und hat das mir gegenüber ganz eindeutig artikuliert. Ich habe das damals aber entschieden und eindeutig abgelehnt."

In Berlin treffen wir uns mit Dr. Christian Hübenthal, Sicherheitsexperte und Herausgeber des Fachmediums "Lagebild Sicherheit". Der Jurist und Kommunikationsexperte gilt als bestens vernetzt in Politik und Sicherheitskreisen und hat auf Bitte des NDR den Fall Kirakosjan analysiert. Für ihn ist danach klar: Diese Geschichte darf nicht einfach zu den Akten gelegt werden. "Der Verfassungsschutz des Landes Mecklenburg-Vorpommern sollte sich mit dem Fall beschäftigen und gegebenenfalls die Informationen auch an das Bundesamt für Verfassungsschutz weiterleiten."

Eine "selbsternannte" Geheimagentin?

Hübenthal glaubt nicht, dass Kirakosjan eine direkt von einem Nachrichtendienst gesteuerte Agentin gewesen ist, dafür sei ihr Vorgehen zu unprofessionell und zu auffällig gewesen. Mindestens aber habe sie auf Eigeninitiative versucht, für Russland Einfluss zu nehmen. "Das Phänomen selbsternannter 'Geheimagenten', welche sich proaktiv aus unterschiedlichsten Gründen Nachrichtendiensten anbieten, ist keine absolute Seltenheit", so Hübenthal. "Häufig sind diese Personen für gezielte geheimdienstliche Tätigkeit vollkommen ungeeignet, bis zu einem gewissen Grad können sie für Nachrichtendienste dennoch nützlich sein und werden nach eigenem Ermessen der Dienste bei Bedarf 'abgeschöpft'."

Diese Personen werden also instrumentalisiert und erhalten in diesen Fällen Zuwendungen und Aufmerksamkeit. Das sei ein gebräuchliches Mittel der hybriden Kriegsführung Russlands. Hübenthal geht davon aus, dass Kirakosjan zumindest eigenmächtig für Russland agitiert habe - etwa indem sie sich für den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 engagierte und dafür Interviewpartner für russische Medien vermittelte.

Hinterbänkler als Ziel für Nachrichtendienste

"Sie pflegte definitiv Verbindungen zu russischen und belarussischen Staats- und Propaganda-Sendern", so der Sicherheitsexperte. "Lose Verbindungen zur russischen Regierung und deren Behörden sind damit belegt und machen weitere Verbindungen wahrscheinlich." Gerade politische Hinterbänkler seien interessant für Nachrichtendienste, meint Hübenthal. "Sie haben weniger zu verlieren, laufen unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit, kümmern sich weniger professionell um ihre digitale Kommunikation und haben dennoch einen validen Zugang zu Informationen." 

Dass die Landes-SPD die Warnungen vor Kirakosjans Aktivitäten ignorierte, findet er bedenklich und kommt zu dem Schluss, "dass die SPD in Mecklenburg-Vorpommern die notwendige Sorgfalt im Umgang mit Infiltration und hybrider Kriegsführung selbst nach der Invasion der Krim und den offenen Kriegsvorbereitungen Russlands außer Acht ließ".

SPD in MV: Augen zu und durch?

Der Ex-Landtagsabgeordnete Friedriszik will den Fall Kirakosjan nicht auf sich beruhen lassen. Frühere Erklärungen aus seiner eigenen Partei, wonach niemand in der SPD sie so richtig gekannt haben will, kann er nicht nachvollziehen. Friedriszik glaubt, dass man "bei den vorliegenden Erkenntnissen und der Art und Weise, wie sie sich präsentiert hat, einen nachrichtendienstlichen Hintergrund nicht ausschließen kann." Dieser Sache müsse nachgegangen werden. "Und mich würde interessieren, was der Verfassungsschutz des Landes Mecklenburg-Vorpommern über diese Frau weiß."

Das Innenministerium in Schwerin antwortet auf unsere Anfrage lediglich, dass der Verfassungsschutz grundsätzlich keine Auskunft über einzelne Personen erteile. Der SPD-Landesverband teilte auf unsere Fragen zu dem Fall lediglich mit: "Frau Schwesig hat bereits in einem persönlichen Gespräch im Sommer dieses Jahres mit Ihnen zu allem ausführlich Stellung genommenen. Und wir haben auch als Landesverband mehrere Anfragen zum Sachverhalt beantwortet." Gayane Kirakosjan sei im Sommer aus der Partei ausgetreten. Daher könnten dazu keine weiteren Angaben gemacht werden.

Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 01.11.2022 | 19:30 Uhr

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