Die Virologin Prof. Dr. Sandra Ciesek © Universitätsklinikum Frankfurt Foto: Ellen Lewis

Ciesek im Corona-Podcast: 200 Tote jeden Tag sind nicht irrelevant

Stand: 15.03.2022 17:07 Uhr

Die Virologin Sandra Ciesek erklärt im Coronavirus-Update von NDR Info, warum sie ein Ende aller Corona-Schutzmaßnahmen für falsch hält - auch wenn die Pandemie angesichts des Krieges in der Ukraine in den Hintergrund getreten ist.

von Ines Bellinger

Bomben und Raketen töten Menschen in der Ukraine, Millionen sind auf der Flucht - wer mag da noch an Corona denken? Sandra Ciesek kann gut nachvollziehen, dass die Pandemie angesichts anderer Weltereignisse wie dem Krieg in der Ukraine inzwischen weniger stark als Bedrohung und auch weniger ernst genommen wird. Aber auch wenn Impfstoffe und antivirale Medikamente Covid-19 einiges von seinem Schrecken genommen haben: Eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 1.500 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zeigt, wie dynamisch das Infektionsgeschehen nach wie vor ist. Unter dem Einfluss von BA.2 infizieren sich derzeit so viele Menschen wie noch nie mit Sars-CoV-2. Der Omikron-Subtyp dürfte mittlerweile auch in Deutschland dominant sein, laut Robert Koch-Institut (RKI) lag der BA.2-Anteil an den Neuinfektionen in der Kalenderwoche 8 (21. bis 27. Februar) bereits bei 48 Prozent.

Das Coronavirus © CDC on Unsplash Foto: CDC on Unsplash
AUDIO: Die neue Podcast-Folge: Das Virus ist noch nicht fertig mit uns (56 Min)

Ciesek: "Die Pandemie ist mit Omikron nicht vorbei"

"Die Pandemie ist mit Omikron nicht vorbei", sagt die Virologin, "Allein wenn man sich die täglichen Todeszahlen anschaut." Sie habe das Gefühl, dass mehr als 200 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 pro Tag mittlerweile einfach hingenommen werden. "Aber 200 Tote jeden einzelnen Tag sind für mich einfach zu viele, um es als harmlos oder irrelevant zu bezeichnen." Die Direktorin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt/Main geht davon aus, dass die Infektionszahlen in Deutschland zunächst weiter steigen werden, bis "irgendwann ganz viele Menschen infiziert sind" und es wärmer wird. "Ich hoffe einfach, dass der Frühling schnell kommt und mithelfen kann, das Virus auszubremsen."

"200 Tote jeden einzelnen Tag sind für mich einfach zu viele, um es als harmlos oder irrelevant zu bezeichnen." Sandra Ciesek

Ein Ende aller tiefgreifenden Corona-Schutzmaßnahmen, wie es die Bundesregierung bislang ab 20. März vorsieht, hält Ciesek für falsch. "Maßnahmen gehören immer wieder auf den Prüfstand und sollten angepasst werden an die aktuelle Situation", sagt sie. "Wir haben einfach keinen stabilen Zustand. Und auch wenn man irgendein Datum versprochen hat - das Virus hält sich nicht daran." Mittlerweile sind Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen zurückgerudert. Sie wollen Regelungen wie Maskenpflicht in Innenräumen und 3G noch bis Anfang April beibehalten.

Einfach und wirksam: Weiter Maske tragen

Gerade Masken seien ein so einfaches und wirksames Werkzeug, das sollte man nicht einfach aufgeben, so Ciesek. Menschen, die zu Risikogruppen gehören, könnten sich sonst kaum mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen, ohne Angst um ihre Gesundheit zu haben. "Es wäre ein falsches Zeichen, das komplett einzustellen." Und falls es doch geschieht, hofft Ciesek darauf, dass genug Menschen auch aus Rücksicht auf andere diesen praktikablen Schutz vorerst beibehalten.

Politische Entscheidungen: Widerspruch bei handelnden Personen

Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage findet es die Wissenschaftlerin "verwunderlich", dass Politiker vor einer möglichen Sommerwelle warnen, die sie selber heraufbeschwören. "Man kann nicht vor einer Sommerwelle warnen und gleichzeitig die Maskenpflicht abschaffen", sagt sie. "Das ist für mich im Moment ein gewisser Widerspruch bei den handelnden Personen. Wenn man die Gefahr sieht, muss man irgendetwas tun." Mit der geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes, das am kommenden Freitag in Bundestag und Bundesrat beschlossen werden soll, wird die Verantwortung wieder den Bundesländern übertragen. Aber man habe in der Pandemie ja schon gesehen, so Ciesek, dass das nicht gut war und die Menschen eher verwirrt hat.

Weitere Informationen
Ein Mann hält ein Smartphone und einen positiven Coronavirus-Schnelltest in der Hand. Auf dem schwarzen  Display des Smartphones steht in roter Schrift: Testergebnis positiv Omikron. © picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer

Coronavirus-Variante Omikron: Was ist bekannt? Wie gefährlich ist sie?

Die Variante und verschiedene Subtypen haben sich auch in Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern ausgebreitet. Was wir über Omikron wissen. mehr

Die Virologin selbst wagt keine Prognose für den Sommer. Viel sei davon abhängig, ob möglicherweise eine neue besorgniserregende Virusvariante auftauche (variant of concern) und wie achtsam die Menschen sich in den kommenden Wochen verhalten. Im Unterschied zum vergangenen Jahr gehen wir in jedem Fall auf einem viel höheren Niveau der Fallzahlen und mit einer viel ansteckenderen Variante in die warme Jahreszeit.

Hohe Todesrate in Hongkong als warnendes Beispiel

Wie schnell auch ein als relativ moderat angesehener Virus-Subtyp bedrohlich werden kann, zeigt das Beispiel Hongkong. Dort steigen aktuell nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die Todeszahlen stark. 86 Prozent der Todesfälle in Verbindung mit Covid-19 betreffen die Altersgruppe der über 70-Jährigen. Es gab offenbar große Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. Experten sehen die Ursache für diese Entwicklung darin, dass nur etwa 30 Prozent der Älteren in Hongkong geimpft und kaum Menschen geboostert sind. Und in Hongkong wurde häufig der chinesische Impfstoff Sinovac verwendet, der sich als weniger wirksam vor allem gegen Omikron gezeigt hat.

Angesichts von immer noch mehr als zwei Millionen ungeimpften über 60-Jährigen in Deutschland dürften diese Zahlen mindestens ein Signal für erhöhte Aufmerksamkeit sein. "Man  sieht, wie wichtig die Priorisierung bei den Impfungen bei uns war, weil sie vor einem schweren Verlauf schützt", sagt Ciesek. "Und Hongkong sollte uns eine Warnung sein, dass Omikron nicht harmlos ist, wenn man nicht immunisiert ist, vor allem in diesem Alter. "

Neue Mutante BA.2.2 aktuell nicht bedenklich

In Hongkong wurde in Sequenzierungen auch eine neue Mutation im Spike-Protein von BA.2 entdeckt, also in dem Protein, das für das Andocken an die menschliche Zelle verantwortlich ist, Die Mutante hat bereits einen eigenen Namen bekommen (BA.2.2) und wurde auch schon in Großbritannien und Singapur nachgewiesen. Aus den wenigen bislang vorliegenden Daten kann Ciesek nicht schließen, dass das Auftauchen dieser Untervariante besonders bedenklich sein könnte. "Darin kann man sicherlich nicht den Grund für die hohen Zahlen in Hongkong sehen, sondern eher in der schlechten Impfquote", sagt sie.

Deltakron: Rekombinanten bei Sars-CoV-2 eher selten

Auch das Auftauchen einer sogenannten Rekombinante aus Delta- und Omikron-Variante (Deltakron) stuft die Virologin nicht als besorgniserregend ein. Das, was bei Influenza-Viren in Tieren immer mal wieder geschieht, nämlich dass bei einer Doppelinfektion einer Zelle zwei Virus-Subtypen genetische Informationen austauschen und damit alle paar Jahre eine Infektionswelle auslösen, geschehe bei Sars-CoV-2 selten und eher zufällig. "Dort passiert das theoretisch durch Brüche in der Nukleinsäurekette", erklärt Ciesek. "Man müsste dafür aber nicht nur eine Doppelinfektion haben, sondern auch einzelne Zellen, die doppelt infiziert sind. Für Influenza ist das klassisch, bei Sars-CoV-2 wäre es möglich. Es ist aber nicht so, dass das täglich passiert."

Zunächst hatte sich bei einer von Forschern auf Zypern entdeckten Corona-Mischform herausgestellt, dass sie auf Verunreinigungen bei einer Laboranalyse zurückzuführen war. Nun beschreiben Wissenschaftler aus Frankreich in einem Preprint sieben miteinander nicht in Verbindung stehende Fälle einer Delta-Omikron-Kombination bei unter 40-Jährigen. Seit Januar 2022 soll die Rekombinante in Frankreich in Umlauf sein. In Dänemark und den Niederlanden wurden ähnliche Sequenzen identifiziert. "Da ist man noch ganz am Anfang, das zu verstehen", sagt Ciesek.

Coronavirus-Update: Drosten und Ciesek verabschieden sich Ende März

Für die Einordnung wissenschaftlicher Publikationen wird Sandra Ciesek der Wissenschaftsredaktion von NDR Info auch künftig zur Verfügung stehen - auch wenn die Folge 112 des Coronavirus-Update die vorerst letzte ist, die sie allein bestritten hat. Am 29. März wird sie gemeinsam mit ihrem Charité-Kollegen Christian Drosten noch ein Schlusswort im Podcast sprechen. Als Gesprächspartner bei aktuellen Entwicklungen bleiben die beiden Virologen der Redaktion danach erhalten. Und auch der Corona-Podcast wird im Frühjahr erst mal weitergehen. In Sonderfolgen wird das Team zunächst noch andere Expertinnen und Experten zu Wort kommen lassen.

Weitere Informationen
Zwei Ärztinnen und ein Arzt gehen auf einem Krankenhausflur entlang © panthermedia Foto: Kzenon

Coronavirus-Blog: Schutzverordnungen der Länder laufen aus

In Krankenhäusern und Pflegeheimen müssen künftig nur noch Besucher Maske tragen, die Testpflicht entfällt. Die Corona-News des Tages - letztmalig im Blog. mehr

Christian Drosten © picture alliance Foto: Christophe Gatea

Drosten: Man wird sich auch im Sommer mit Omikron anstecken können

Der Virologe erklärt, warum FFP2-Masken das Mittel der Wahl bleiben sollten und warum im Coronavirus-Update nun (fast) alles gesagt ist. mehr

Ein Pflaster klebt auf dem Arm einer jungen Frau. © Colourbox Foto: Csaba Deli

Coronavirus-Update: Alle Folgen

Der Virologe Christian Drosten lieferte im Podcast Coronavirus-Update Expertenwissen - zusammen mit Virologin Sandra Ciesek. Hier alle Folgen in der Übersicht. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 15.03.2022 | 17:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Coronavirus

Mehr Nachrichten

Ein Europäischer Grauwolf in einem Gehege vom Wolfcenter Dörverden. © dpa-Bildfunk Foto: Sina Schuldt

Wolf ins Landesjagdrecht? Aufnahme würde kaum etwas ändern

Nachdem es im Segeberger Forst offenbar Wolfsnachwuchs gibt, diskutiert der Landtag noch vor der Sommerpause erneut über das Landesjagdrecht. mehr