Dr. Sabine Schormann, Generaldirektorin documenta und Museum Fridericianum gGmbH © dokumenta/Harry Soremski Foto: Harry Soremski

documenta 2022 thematisiert Kollektivität in der Kunst

Stand: 03.01.2022 13:47 Uhr

Im kommenden Sommer wird in Kassel die 15. Ausgabe der documenta eröffnet. Sabine Schormann hält als Generaldirektorin der documenta die organisatorischen Fäden in den Händen. Ein Gespräch.

Kuratiert wird die weltgrößte Schau für Gegenwartskunst 2022 vom indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa aus Jakarta. Zu Konzept, Kunst und Künstlerinnen und Künstlern der vielbeachteten Weltkunstausstellung, die vom 18. Juni bis 25. September stattfindet, befragen wir Sabine Schormann. Sie hält als Generaldirektorin der documenta und des Museums Fridericianum in Kassel die organisatorischen Fäden in den Händen.

In rund sechs Monaten ist es soweit, dann wird die weltgrößte Schau für zeitgenössische Kunst, die documenta in Kassel eröffnet. Alle fünf Jahre findet sie statt. 2017 war die letzte Ausgabe, das heißt, es gab eine lange Vorbereitungszeit. Frau Schormann, was ist das für ein Gefühl, alles auf einem guten Weg, oder gibt es noch viele offene Fragen, viele offene Baustellen, vieles zu bedenken?

Sabine Schormann: Das gibt es natürlich auf jeden Fall: vieles zu bedenken. Aber es ist ein gutes Gefühl. Es ist aufregend, weil ganz viel gleichzeitig passiert, sehr viel Spannendes passiert. Aber man merkt auch, dass es vorangeht und die Projekte der Künstlerinnen und Künstler jetzt immer deutlicher und klarer werden - und alles, was drum herum geht - dann beflügelt das sehr. Denn diese fünf Jahresperiode, die ja konstitutiv ist für die documenta, hat natürlich ihre Vorteile, weil sie wirklich ermöglicht, sich noch mal grundsätzlich mit Fragen der Zeit auseinanderzusetzen und das in künstlerischer Hinsicht umzusetzen. Aber gleichzeitig ist es natürlich auch wirklich lang, und dementsprechend ist es ein schönes Gefühl, wenn es jetzt so langsam auf die Zielgerade geht.

Bevor Sie am 1. November 2018 Ihr Amt angetreten haben und nach Kassel kamen, war Ihnen die Arbeit mit großen Projekten vertraut. Was hat Sie an der documenta gereizt?

Schormann: Also insgesamt verstehe ich immer meine Aufgabe - und es macht mir Spaß, es zu versuchen - Ermöglicherin zu sein. Also anderen dabei zu helfen, ihre Projekte, ihre Ideen umzusetzen. Ich glaube, das zieht sich so ein bisschen wie ein roter Faden durch diese Biografie. Es geht also gar nicht so sehr um die Größe, sondern darum, etwas möglich zu machen. Was die documenta betrifft, so finde ich sie so besonders spannend, weil es eben eine künstlerische Auseinandersetzung auch mit sozialen, gesellschaftlichen, politischen Fragen ihrer jeweiligen Zeit ist. Und dabei zu sein, das einmal wirklich mitzuerleben, sozusagen von der anderen Seite und zu schauen, was jetzt für uns in diesem 21. Jahrhundert wichtig ist, das hat mich bewegt, mich dort einzubringen und ich habe mich sehr gefreut, dass ich diese Aufgabe übertragen bekommen habe.

Frau Schormann, als sie 2018 nach Kassel kamen, war noch gar nicht klar, wie die documenta 2022 aussehen würde. Im Februar 2019 wurde Ruangrupa von der Findungskommission als Kuratorenposten bekanntgegeben. Ein indonesisches Kollektiv. Die Kunstwelt zuckte, denn es war klar, es wird viele erste Male geben bei der 15. Ausgabe der documenta. Zum ersten Mal kuratieren Asiaten die Kunstschau - zum ersten Mal ein Kollektiv. Was hat das Konzept von Ruangrupa, was andere nicht haben?

Mitglieder des Künstlerkollektivs ruangrupa © Gudskul / Jin Panji
Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa

Schormann: Ja, sie sagten es gerade schon. Die erste Aufgabe war im Grunde, eine Findungskommission zusammenzustellen, die sich dann sehr intensiv Gedanken darüber gemacht hat: Wo stehen wir heute? Was sind wirklich Fragen der Kunstwelt des 21. Jahrhunderts? Was sind gesellschaftliche Fragen? Und wer kann darauf möglicherweise vielleicht nicht gerade Antworten, aber Impulse geben, Impulse setzen? Und so fiel die Wahl der Findungskommission auf Ruangrupa. Ruangrupa ist ein Künstler*in-Kollektiv aus Jakarta, Indonesien, die aus einer Studierendenbewegung gegen das Suharto-Regime hervorgegangen ist. Und diese Anfänge stecken im Grunde auch immer in ihrer künstlerischen Praxis drin. Ganz vieles von dem, was sie verhandeln, was Sie ansprechen, führt darauf zurück, dass sie sich mit sehr tiefgehenden Fragen, ökologischen Fragen, sozialen Fragen, gesellschaftlichen Fragen der Zeit auseinandersetzen und das auf sehr viele breite, auch künstlerische Wege versuchen, Mitmenschen vor Ort anzugehen. Das ist dieses Konzept, was immer wieder im Raum steht.

Es ist im Grunde kein fertiges Konzept, sondern sehr prozessorientiert aufgebaut. Und es wird unter dem Namen Lumbung zusammengefasst. Lumbung ist indonesisch für eine Reisscheune, ein Speicher, in dem Überschüsse der Ernte auf bewahrt und dann nach gemeinschaftlichen Kriterien wieder verteilt wird. Das ist das Leitbild für diese documenta. Denn es steht nicht nur für eine agrarische Arbeitsweise, sondern auch überhaupt für eine Art miteinander, kooperativ zusammenzuarbeiten, Ressourcen zu teilen, miteinander etwas zu gestalten. Und mit diesem Miteinander etwas zu gestalten, das ist das, was die Findungskommission so fasziniert hat am Konzept von Ruangrupa und was uns bis jetzt fasziniert - was sozusagen die Grundlage für diese documenta 15 ist.

Ich habe den Eindruck, das Kollektive gerade sehr im Trend sind. Der renommierte Turner-Preis ging im Dezember an das "Array Collective" aus Belfast und auf der Shortlist standen nur Kollektive. Daher meine Frage: Ist das ein Trend? Beobachten Sie das auch?

Schormann: Das beobachten wir tatsächlich auch. Eines dieser fünf Kollektive "Project Art Works" ist übrigens auch eingeladen zur documenta. Darüber haben wir uns natürlich auch sehr gefreut, dass sie nominiert wurden. Ich denke, in einer gewissen Form ist da die documenta mit dieser Entscheidung auch Vorreiterin gewesen. Auch beim Centre Pompidou wird gerade eine große Reihe gestartet, die sich mit Kollektivität in der Kunst beschäftigt. Und das finden sie tatsächlich momentan an vielen Stellen.

Ich glaube, es hat etwas mit dieser grundsätzlichen Fragestellung zu tun, ob dieser Individualismus, dieses immer nur für sich einzutreten, tatsächlich ein Weg für die Menschheit für die Zukunft ist. Ich glaube, deswegen ist gerade das Thema der Kollektivität, der Fairness, des Miteinander, des Ressourcen-Teilens - alles Punkte, die für Ruangrupa konstitutiv sind - das, was vielleicht eine Möglichkeit ist, in eine bessere Zukunft zu gehen.

Das Gespräch führte Claudia Christophersen.

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Dieses Thema im Programm:

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