Anfassen ausdrücklich erwünscht! - Kunst für Sehbehinderte im öffentlichen Raum
Die Kieler Künstlerin Ute Diez verbindet Reliefs von schönen Aussichten mit poetischen Texten in Brailleschrift. Mit ihren sogenannten Sicht_Feldern können blinde Menschen Kunst erleben.
Auf dem Kleinen Kiel treiben die Aluminium-Pyramiden von Künstler Ulrich Behl. Gegenüber spiegelt sich die Sonne in einer spiralförmigen Edelstahl-Installation. Und im Hiroshimapark stehen mehrere Skulpturen. Kunst im öffentlichen Raum gibt es hier in der Kieler Innenstadt an jeder Ecke. Aber: "Die ist meist für sehende Menschen gemacht", sagt Ute Diez. Die bildende Künstlerin hat in ihre Werke schon oft Brailleschrift eingebunden, sich intensiv mit dem Tastsinn beschäftigt. Als sie dann an einem Aussichtspunkt stand und den Blick genoss, da sei ihr ein Gedanke gekommen: "Mensch, diese schöne Aussicht, die ist für Blinde gar nicht erfahrbar", erzählt sie.
Aussichten erleben, die bisher unbekannt waren

Eine Übersetzung der Aussicht in ein tastbares Relief - das ist die Idee gewesen. Mittlerweile sind die "Sicht_Felder" von Ute Diez an mehreren Orten installiert. Zum Beispiel am Brückengeländer über dem Kleinen Kiel, vor dem jetzt Petra Drodofsky und Jürgen Trinkus stehen. Beide sind vollständig blind, verschaffen sich mit den Händen einen groben Überblick. "Ich habe jetzt den Himmel hier zu fassen", sagt Petra Drodofsky und streicht über die angedeuteten Wolken. "Und hier ist ein spitzer Turm, da würde ich aufs Rathaus tippen!" Obwohl sie Kielerin ist, sei ihr nicht bewusst gesehen, wie die Gebäude hier rund ums Wasser angeordnet sind, wie die Aussicht demnach sein muss. "Da das Rathaus, davor das Opernhaus, dann kommen Bäume und Sträucher. Das finde ich total genial, sagenhaft stark", freut sie sich.
Umsetzung zuerst skeptisch gesehen
Jürgen Trinkus hat Künstlerin Ute Diez den ganzen Prozess hindurch begleitet. Er ist Mitglied im Beirat für Menschen mit Behinderung und hat bei einer Sitzung zur Projektförderung davon erfahren: "Da war ich erst mal ziemlich reserviert und misstrauisch, weil sich Sehende das sehr einfach denken: Bilder einfach in etwas Tastbares umsetzen und dann kommt der Blinde und alles ist klar. So funktioniert das leider nicht", erzählt er. Denn beispielsweise Perspektiven erschließen sich für Blinde nur schwer und die Punktschrift muss eine Normgröße erfüllen. Die wollte Ute Diez unbedingt in die Sicht_Felder einbauen, nämlich überall dort, wo Wasser ist. So wollte sie nicht nur ein Abbild der Aussicht schaffen, sondern auch die Kunst erlebbar machen, erläutert sie ihre Idee: "Im Wasser sind poetische Textbestandteile zum Ort verarbeitet, in denen es um das Gefühl geht, das hier erzeugt werden soll, was ich als Sehender auch habe."
Unterstützung auf der Webseite
Die Texte und eine Beschreibung, was auf dem Relief zu sehen ist, kann jeder direkt an der Platte mithilfe eines QR-Codes abrufen. So können Sehende sich anhören, was dort in Brailleschrift geschrieben ist. Und Blinde können sich an der Beschreibung entlang arbeiten und erfahren, welches Gebäude sie gerade ertastet haben. "Was die Hände einmal begriffen haben, das merkt sich der Kopf. Das ist durchaus ein Vorgang, der etwas mit einem macht", beschreibt Jürgen Trinkus das Erlebnis. Auch er ist mittlerweile begeistert vom Projekt - auch weil es den Dialog und die Kommunikation zwischen Blinden und Sehenden fördere.
Temporäre und dauerhafte Installationen
Gefertigt ist dieses Sicht_Feld aus 40 einzelnen Elementen aus dem 3D-Drucker. Da experimentiere sie noch mit Materialien, erzählt Ute Diez. In ihrem Atelier liegt schon eine neue Platte für die Promenade in Schilksee, die nur noch aus zehn Einzelteilen besteht. Beide Platten sind und werden nur temporär installiert. Das liegt unter anderem an den Genehmigungen für die Standorte oder an der Finanzierung: Das Sicht_Feld am Kleinen Kiel etwa wurde mit Geld aus einem Fördertopf für temporäre Kunst im öffentlichen Raum bezahlt. Aber die Nachfrage nach dauerhaften Installationen sei groß, sagt Ute Diez - und deshalb hat sie nun eine erste Reliefplatte aus Bronze gießen lassen. Die wird am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung an der Kiellinie aufgestellt und zeigt erstmals keine Aussicht, sondern einen Blick ins Wasser. Dort können unter anderem Fische, Quallen und Seegras ertastet werden.
Diverse Sicht_Felder in ganz Norddeutschland
"Natürlich haben die höhere Kosten, das ist ganz klar", sagt die Künstlerin, "aber bei Bronze weiß ich auch, was ich habe. Das hält!" Das Sicht_Feld am Geomar wird nun direkt angebracht. Anfang Juni soll schon die nächste dauerhafte Tafel folgen: an der Schleusenplattform in Kiel-Wik, mit Blick auf den Nord-Ostsee-Kanal. Außerdem hat Ute Diez Förderzusagen für Sicht_Felder in Lübeck und Hamburg. "Da wird eine dauerhafte Platte auf dem Fischmarkt installiert. Da habe ich auch die Elphi mit drauf, das ist natürlich sehr toll!", sagt die Künstlerin strahlend. Und grundsätzlich biete sich sowieso jede Aussicht für eine ihrer Relieftafeln für Blinde an - Hauptsache, es ist auch Wasser zu sehen.
