Hörspiel
Mittwoch, 04. Januar 2023, 20:00 bis
22:00 Uhr
Das NDR Hörspiel hat sich in den letzten Jahren immer wieder mit dem KI-Diskurs beschäftigt. Wie klingt eine KI? Wie verändert sich die Stimme im Digitalen? Neben "Die Maschine steht still" wiederholen wir zwei grundverschiedene Audio-Experimente: Christine Nagel erzählt die Geschichte einer jungen Radio-Moderatorin, die Sprachsynthese- und Sprech-Erkennungstools nutzt, um ihre persönliche KI-Stimme zu entwickeln. In den "Digitalen Gesängen" von wittmannlzeitblom wird in einem dreidimensional-angelegten Hörraum die Maschine zur Solistin.
Siren_web_client.exe
Eine Radio-Moderatorin nutzt ein individuelles Sprachsynthese- und Sprech-Erkennungstool, um ihre persönliche KI-Stimme zu entwickeln. Als sie das Spiel ins Laufen bringt, meint sie Freiheit zu gewinnen. SIREN, Maries künstliche Stimme, verbindet sich mit allen möglichen lebenden und toten Geistern im Netz, unter anderem mit Hannah Arendt, deren Äußerungen und Ideen verfügbar geblieben sind. SIREN stellt ihr Fragen, die unsere Gegenwart betreffen. Christine Nagels Hörspiel thematisiert, was die Digitalisierung mit der menschlichen Stimme machen kann - und das, was (möglicherweise) nicht gelingt. Dies betrifft zum Beispiel ethische, rechtliche und Fragen der Firmenphilosophie der Anbieter und Programmierer von Sprachtools.
Neuronale Netzwerke ermöglichen, dass sich KI-Stimmen selbst generieren. Sie reichern sich an mit Wissen und Strukturen des im Internet verfügbaren Materials. Doch wer ist der Urheber? Wer übernimmt die Verantwortung für die Lügen, die durch sie in der Welt sind und Marie zugeschrieben werden? Und: Was ist das Menschliche an der Stimme?
Die KI-Stimme SIREN wurde für diese Hörspiel-Produktion programmiert. Damit befragt Christine Nagel spielerisch die technischen Entwicklungen unserer Gegenwart mit den dem Hörspiel eigenen Mitteln und stellt akute, gesellschaftspolitische Fragen. Die Programmierung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Informations- und Kommunikationstechnik, Universität Magdeburg, Prof. Dr.-Ing. Ingo Siegert, und mit Joscha Bach, Kognitionswissenschaftler & KI-Forscher in San Francisco. Die Schauspielerin Paulina Bittner, deren Stimme zugrunde liegt, wurde im Studio immer wieder mit einem neuen Programmierstadium konfrontiert und reagierte im Dialog darauf. Dieser halb-dokumentarische Ansatz macht das Hörspiel zu einem Experiment: Ob und in welche Richtung sich die künstliche Intelligenz im Verlauf der Programmierung entwickeln würde, war bei Beginn der Aufnahmen nicht vorhersehbar.
Das Hörspiel basiert auf Recherchen und Gesprächen mit:
- Prof. Ingo Siegert, Institut für Informations- und Kommunikationstechnik (IIKT) Fachgebiet Mobile Dialogsysteme
- Joscha Bach, Kognitionswissenschaftler und KI-Forscher, San Francisco
- Lauren Newton, Sängerin und Klangkünstlerin zu ihrer Arbeit mit dem Körper und der Stimme
- Anja Breljak, Medienphilosophin, zuletzt erschien das Buch: “Affekt, Macht, Netz: Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft", Hrsg. Rainer Mühlhoff, Anja Breljak, Jan Slaby, transcript Verlag 2019.
- Prof. Björn Schuller, Professor für Künstliche Intelligenz, Uni Augsburg und Imperial College London, und Startup-Gründer der Firma audEERING in München
- Prof. Sabine Müller-Mall, TU-Dresden, Prof. für Rechts- und Verfassungstheorie
- Ullrich Pöhn, Sonologe und Grundton-Bestimmung
- Univ.-Prof. Dr. med. Christiane Neuschaefer-Rube, Klinikdirektorin Lehr- und Forschungsgebiet für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Aachen
Tell Me Something Good, Stockhausen!
The Story goes like this: 1956 versuchte Karlheinz Stockhausen im "Gesang der Jünglinge" Dystopie und Utopie zu vereinen. Eine der vielen Legenden um dieses Kunstwerk könnte lauten, dass der Komponist aus der Schwärze seiner eigenen Kindheit und den Flammen des Holocaust einen Lobgesang auf den Herrn erschaffen wollte und dazu die Unschuld des Knabengesangs mit elektronischer Musik verschmolz. Doch, so betonte der Schöpfer des Kunstwerks selbst, ging es beim "Gesang der Jünglinge“ im Feuerofen nicht um den Inhalt, sondern um das rituelle Moment der Sprache. Sein selbst proklamiertes Ziel war, mit einer 5-Kanal-Klangmaschine die damaligen Mono-Hörgewohnheiten signifikant zu erweitern - und was könnte sich besser dazu eignen, als seine Installation im Kölner Dom zu Ehren Gottes erklingen zu lassen. Visionär, provokant, kalkuliert? Wie dem auch sei. Das Werk wurde seitens der Kirchengemeinde als "zu denaturiert" abgelehnt. Auch diese Erfahrung dürfte Stockhausen 1971 zu einer seiner klügsten Thesen geführt haben: "Change the method! - New methods change the experience. New experiences change man."
Ein halbes Jahrhundert nach seiner legendären Lecture "Four Criteria of Electronic Music" verändert das Hörspielduo wittmann/zeitblom ihre Methodik und treibt inspiriert vom "echten Leben" auf einem Strom der hyperrealen Klangsynthese. Sie übersetzen Stockhausens revolutionäre Ansätze für einen Raumklang in die technischen Möglichkeiten des Jahres 2020, in einen binauralen 3D-Hörraum. Hier spielt die Vermischung von Mensch und analoger Technik jedoch keine Rolle mehr. Ein neues Wesen, "Enhance", steuert uns in 12 Gesängen als AI-Zeremonienmeister durch Beobachtungen aus unserem schizophrenen, medialen, postfaktischen, von disruptiven Technologien und Denkschablonen geprägten Alltag und propagiert die unausweichliche Notwenigkeit des Datazentrismus.
Gibt es angesichts des globalen Traumas auf die von Google erfundene Formel "Tell me something good“ noch eine andere Antwort? Wieviel Spielraum bleibt der Menschheit noch, um sich nicht selbst abzuschaffen? wittmann/zeitblom meditieren über das Ende alter Ordnungen und einen neuen Schöpfungsmythos. Planvoll denaturiert, entmännlicht, entweiblicht, divers, janusköpfig. "Weißt du, wer da spricht? - Never mind! Smart systems, smart love, smart life, smart dust. Just do it.“ Eine Stunde Human Voice Machine generiert aus Texten von Nick Bostrom, László F. Földényi, Rosa Luxemburg, Yuval Noah Harari, einem AI-Poem-Generator, Julius Sturm, Robert Barry, Michel Houellebecq und Karlheinz Stockhausen.
