Aus dem Schatten ans Licht
Die beliebtesten Bücher der Gegenwart handeln von der Vergangenheit. Oft sind es die eigenen Familiengeschichten, denen sich Autorinnen und Autoren heute zuwenden und dabei, im besten Fall, wenig bekannte Facetten der Zeitläufte ausleuchten. Ein solches Buch ist auch Maria Stepanovas Roman "Nach dem Gedächtnis", das gerade in der deutschen Übersetzung von Olga Radetzkaja im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
Eine russische Familiensaga
"Pamjati Pamjati" - so heißt das Buch im russischen Original, und das ist kaum übersetzbar. "Zum Gedenken an das Gedächtnis" kommt der Sache nahe. "Nach dem Gedächtnis", der deutsche Titel im Suhrkamp-Verlag, ist eine elegante, griffige Lösung, denn er deutet auf ein zentrales Thema des insgesamt großartig von Olga Radetzkaja übersetzten Buchs hin: die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, eine Familiensaga aus den Ruinen des 20. Jahrhunderts zu klauben und im Spiegelkabinett des 21. Jahrhunderts zu rekonstruieren.
Zugleich aber ist diese Erinnerungsarbeit für Maria Stepanova, die 1972 in Moskau geboren wurde und einer weit verzweigten russisch-jüdischen Familie entstammt, unausweichlich. Sie habe das Buch, so schreibt sie, schon als Zehnjährige begonnen und immer wieder aufgeschoben: "Alle Mitglieder meiner Familie waren bewusst, prinzipiell, auf eigenen Wunsch, unauffällige Leute. Sie blieben am Rande der großen Geschichte mit ihren grandiosen Maßstäben, schrecklichen Ereignissen, sie versuchten, sich zu verbergen, irgendwo zu verstecken und dort zu hocken. Trotzdem haben wir sehr viele familiäre Briefe, Fotoalben, Gegenstände, wie diese rundbeinigen Thonet-Stühle, die schon 100 Jahre existieren und noch immer stehen. Und das Gefühl der Verbundenheit war immer sehr wichtig."
Gegen eine inflationäre Erinnerungsliteratur
Maria Stepanova ist in Russland vor allem als Dichterin und Essayistin bekannt. Sie ist auch Chefredakteurin der Internetzeitschrift "colta.ru" - einer wichtigen Instanz für das freie Wort. Ihr Buch "Nach dem Gedächtnis" ist viel mehr als ein Roman: eine poetisch konzentrierte, unpathetisch ausformulierte Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit, sich heute, zumal aus der russisch-jüdischen Perspektive, der eigenen Familiengeschichte zu vergewissern. Im Vergleich zu Katja Petrowskajas "Vielleicht Esther", Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol" oder Maxim Billers "Sechs Koffer" ist "Nach dem Gedächtnis" tatsächlich ein Metaroman, der auch eine große Skepsis gegenüber der inflationären Erinnerungsliteratur ausdrückt.
"Das Gedächtnis ist ein sehr lebendiges, gefährliches Territorium", meint die Autorin. "Gedächtniskriege bilden so einen Bürgerkrieg, der nie endet. Mir scheint, das ist vielleicht das Aktuellste der derzeitigen Vorgänge, denn das Gespräch über die Vergangenheit ist ein Mittel, über die Gegenwart zu sprechen. Und wenn in Russland erneut begonnen wird, Stalin zu erörtern, Ivan den Schrecklichen oder Nikolaj den Zweiten, so wird damit zweifellos eine politische Diskussion durch eine historische Diskussion ersetzt."
Menschen vor dem Vergessen retten
Stepanova versucht, ihre Verwandten bis in die Generation der Ururgroßeltern hinein aus der Unscheinbarkeit zu locken - wie ihre Urgroßmutter mütterlicherseits, Sarra Abramovna Ginsburg, die Revolutionärin war, politische Gefangene in der Peter-Pauls-Festung, dann Medizinstudentin an der Sorbonne.
Wir lesen ihre Briefe, lesen von Stepanova in Worte gefasste Fotos, begleiten die Autorin in Archive und Museen. Wie die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch bringt Stepanova verschiedenste Stimmen und Gesichter des 20. Jahrhunderts ans Licht. Weil es aber ihre eigene Familie betrifft, denkt Stepanova immer auch über das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit nach. Das ist Literatur von größter Gedankenschärfe und Menschlichkeit.
"Einerseits führe ich Leute, die ihr Leben lang im Schatten bleiben wollten, in das Licht der Öffentlichkeit. Andererseits versuche ich, sie vor dem Vergessen zu retten, und das erscheint mir unendlich wichtig", erklärt Stepanova.
Nach dem Gedächtnis
- Seitenzahl:
- 527 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-42829-0
- Preis:
- 24,00 €
