Das Buch "To Kill A Mockingbird" (Wer die Nachtigall stört") steht auf einem Tisch neben einem Blecheimer mit Tulpen © picture alliance / Dan Anderson/EPA/dpa | Dan Anderson Foto: Dan Anderson

Wie verletzend darf Sprache in der Literatur sein?

Stand: 12.05.2022 10:47 Uhr

Die Auseinandersetzung um korrekte, nicht-diskriminierende Sprache wird mit viel Emotion geführt. Teil 3 der Serie "Literatur zwischen Macht, Identität und Kunst" beschäftigt sich mit der Kritik an literarischen Texten.

von Patric Seibel

Wie verletzend darf Literatur sein? Wie herabwürdigend, wie diskriminierend darf die Sprache daherkommen, welche rassistischen oder frauenfeindlichen Klischees sind zumutbar? Am besten gar keine, sagt Ulrike von Stenglin, Chefin vom Verlag Hanserblau in Berlin: "Wir haben zum Beispiel in unserem großen Erfolgsroman 'Der Gesang der Flußkrebse' von Delia Owens nach Rücksprache mit der Autorin verletzende Sprache, vor allem das N-Wort ersetzt."

Wenn man für eine emanzipierte Gesellschaft streitet, für Geschlechtergerechtigkeit und Antirassismus, dann fängt das bei der Sprache an, so argumentieren die Verfechter und Verfechterinnen einer diskriminierungsfreien Literatur.

Sprach-Auseinandersetzungen werden häufig im Netz geführt

Dass ein zähes Ringen um die  Sprache auch verloren werden kann, hat Ulrike von Stenglin selbst im eigenen Verlag erfahren. Ihr Autor Alem Grabovac weigerte sich, verletzende Ausdrücke im Manuskript seines  Romans "Das achte Kind" zu tilgen: "Am Ende hat er sich durchgesetzt. Das ist ja auch sein Urheberrecht und sein Werk und wir haben dann vorne ins Impressum einen kleinen Disclaimer eingebaut, dass die verletzende Sprache, die in dem Buch vorkommt, weder seine Meinung noch die des Verlags widerspiegelt - aber ich gestehe, dass ich nicht richtig glücklich damit war." Nicht immer verlaufen die Auseinandersetzungen um Sprache so zivilisiert wie in diesem Fall zwischen Verlegerin und Autor.

Die Gräben zwischen der sogenannten Generation "woke", also den "Aufgewachten" und dem konservativen Lager werden tiefer, der Ton schärfer. Meist werden die Auseinandersetzungen im Netz ausgetragen. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold spottete in der ZEIT über die seiner Ansicht nach sprachlich übersensible "Generation Schneeflocke". Die Forderung, die Sprache in Romanen müsse gesäubert sein von abwertenden Ausdrücken, weist Rainer Moritz, Chef des Hamburger Literaturhauses entschieden zurück: "Ich halte von dieser Forderung rein gar nichts, weil: Romane sind Romane. In Romanen treten merkwürdige Menschen auf, mit merkwürdigen Meinungen. Da gibt es Figurenrede, da gibt es ekelhafte Typen. Wenn Sie allein an die Literatur des 20. Jahrhunderts denken, werden sie viele solcher Menschen finden, die absolut Diskriminierendes von sich geben. Ein Roman kann nicht korrigiert werden, deshalb halte ich von solchen Forderungen nichts."

"Disrupt texts" will diskriminierende Inhalte aus Schullektüre verbannen

Der Streit um korrekten Ausdruck, der im deutschen Sprachraum erst in den letzten Jahren und Monaten Fahrt aufgenommen hat, köchelt in den USA bereits seit Jahrzehnten. "Disrupt texts", so der Name einer Initiative von Lehrerinnen und Lehrern, hat sich dem Ziel verschrieben, diskriminierende Bücher und Inhalte aus der Schullektüre zu verbannen.

Vor allem die Klassiker der Weltliteratur stehen auf dem Index: Von Shakespeare über "The Great Gatsby" bis hin zu Harper Lees "Wer die Nachtigall stört". Auch für Verlegerin Ulrike von Stenglin ist gerade der klassische Kanon nicht unproblematisch: "Es gibt viele Werke, die meiner ganz persönlichen Ansicht nach heute nicht mehr verlegt werden sollten oder zumindest nicht einfach als reine Texte, sondern möglicherweise in kritischen Ausgaben. Es gibt bestimmte Bücher, die kann man heute einfach gar nicht mehr lesen - und ich denke einfach, dass man den ganzen Klassik-Kanon noch mal überprüfen sollte, abgesehen davon, dass er überwiegend weiß und männlich geprägt ist."

Klassiker von Wilhelm Raabe bis zu Theodor Fontane neu bewerten

Die Debatte um den literarischen Kanon der Klassiker wird hierzulande noch nicht so scharf geführt wie in den USA. Größere Wellen verursachte allerdings die Diskussion um aus heutiger Sicht rassistische Denkmuster im Werk des Philosophen Immanuel Kant. Auch viele Klassiker des 19. Jahrhunderts haben antisemitische Stereotype verbreitet - von Wilhelm Raabe bis zu Theodor Fontane.

Das müsse man historisch lesen und könne es nicht nachträglich korrigieren, so Rainer Moritz. Der sogenannte literarische Kanon der Klassiker könne dagegen durchaus neu bewertet werden: "Dass in der westlichen Welt der Kanon der Weltliteratur zu eurozentristisch ist, dass Texte und Themen übersehen worden sind, ganze Kontinente zu schwach wegkommen, das ist eine ganz klare Sache. Man wird diesen Kanon in den nächsten Jahrzehnten sicherlich umschreiben müssen."

Teil einer breiten gesellschaftlichen Debatte

Sicherlich geht es bei der Debatte um Wörter und Wendungen um mehr als nur Literatur. Es geht um die ganz großen gesellschaftlichen Themen, um Hegemonie und Ohnmacht. Um Kämpfe, die, wie manche Beobachterinnen und Beobachter glauben, nicht nur auf den symbolischen Schlachtfeldern der Texte und Zeichen, sondern auch in Institutionen, Parlamenten und Betrieben ausgetragen werden sollten.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kultur | 31.03.2021 | 11:40 Uhr

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