Ein Junge setzt sich eine Kippa auf den Kopf. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Bockwoldt
Ein Junge setzt sich eine Kippa auf den Kopf. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Bockwoldt
Ein Junge setzt sich eine Kippa auf den Kopf. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Bockwoldt
AUDIO: Jüdisches Leben in Norddeutschland wird zunehmend bedroht (4 Min)

Jüdisches Leben in Norddeutschland wird zunehmend bedroht

Stand: 08.11.2023 06:56 Uhr

"Der Koffer ist symbolisch gepackt", sagt Rebecca Seidler von der Liberalen Gemeinde in Hannover. Einen Monat nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober ist das Leben der norddeutschen Jüdinnen und Juden nicht mehr wie vorher.

von Michael Hollenbach

"Das ist ein terroristischer Angriff, wie man ihn in dieser Form noch nicht gehabt hat", sagt Michael Fürst, Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von  Niedersachsen. "Für uns Juden ist das wie ein zweiter Beginn einer Shoah. Für mich hat das eine sehr zeitgeschichtliche, bedrohliche Dimension." 

"Wie wird es sich in Deutschland entwickeln?" 

Rebecca Seidler, die Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover, erklärt: "Die Welt hat sich komplett geändert seit dem 7. Oktober. Viele Gemeindemitglieder sind in sehr großer Sorge und fragen sich: Wie wird es sich hier in Deutschland entwickeln? Im Moment ist es ein Balanceakt: Wir müssen das jüdische Leben aufrechterhalten, aber eben auch für Schutz sorgen."

Eine israelische Flagge weht im Wind. © picture alliance Foto: Winfried Rothermel
AUDIO: Musiker und Autor Ofer Waldmann: "Der 7. Oktober dauert noch an" (6 Min)

Dass der Antisemitismus auf den Straßen und im Internet in den vergangenen Woche zugenommen hat, bestätigt auch Helge Regner vom RIAS Niedersachsen, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Zwei Tage nach dem Massaker der Hamas stiegen auch in Niedersachsen die antisemitischen Übergriffe stark an: "Seitdem haben wir ein exorbitant hohes Aufkommen an Meldungen verzeichnen können. Das, was wir derzeit erleben,  übersteigt unsere bisherigen Beobachtungen. Wir kommen mit der Geschwindigkeit, die die Bearbeitung und Verifizierung eines neuen Vorfalls benötigt, nicht hinterher."

Beleidigt, beschimpft, bespuckt 

Durchschnittlich werden zwei, drei antisemitische Vorfälle pro Tag registriert. Oft handele es sich um Beleidigungen und Beschimpfungen: "Beispielsweise wurde eine Frau, die eine Israel-Fahne trug, bespuckt. Menschen, die aufgrund ihrer Kippa als jüdisch erkennbar waren, wurden bedroht. Es gibt auch Anfeindungen in den sozialen Medien - die Fälle sind also vielfältig." 

Weitere Informationen
Während einer Demonstration halten zwei Personen die Flagge Israels in die Luft. © NDR Foto: Fabian Boerger

Juden in Schleswig-Holstein werden zunehmend bedroht

Die Zahl antisemitischer Vorfälle bei uns im Land nimmt zu. Juden in Schleswig-Holstein haben Angst. mehr

Rebecca Seidler von der Liberalen Gemeinde in Hannover sieht momentan insgesamt eine bedrohliche Situation für Jüdinnen und Juden: "Nicht nur die rechtsextreme Szene, sondern auch islamistische und auch linksgerichtete Milieus positionieren sich gerade gegen uns. Es bedarf einer großen Resilienzfähigkeit, das auszuhalten." 

Gedanken an mögliche Ausreise nach Israel 

So sei es kein Wunder, dass viele Gespräche unter Jüdinnen und Juden momentan auch um die Frage einer möglichen Ausreise nach Israel kreisen. "Der Koffer ist definitiv symbolisch vom Dachboden runtergeholt und auch gepackt", so Seidler. "Die große Frage ist: Wohin? Trotz der Kriegssituation in Israel können sich einige vorstellen, lieber dort zu leben als hier." 

Weitere Informationen
Der Lehrer Bob Blume © picture alliance/dpa Foto: Philipp von Ditfurth

Bob Blume: Wie umgehen mit Antisemitismus an Schulen?

Bei Kindern kommen Nachrichten aus dem Nahost-Konflikt oft ungefiltert oder ideologisch gefärbt an. Wie können Schulen reagieren? mehr

Auch der Hamburgerin Rebecca Vaneeva, Präsidentin des Verbandes jüdischer Studierender Nord, kommen solche Gedanken immer wieder: "Man sagt ja immer, Israel ist ein Zufluchtsort. Und man merkt in diesen Tagen, wie wichtig ein Schutzraum wie Israel ist. Ich mache mir auf jeden Fall Gedanken, wie es weitergeht, aber für mich ist es keine Option, jetzt zu gehen. Denn gerade in Deutschland braucht es Menschen, die Aufklärungsarbeit leisten. Ich werde weiterhin dafür kämpfen, dass hier ein diverses jüdisches Leben möglich und auch gewollt ist."

Viele Jüdinnen und Juden hoffen auf weitere Zeichen der Solidarität, zum Beispiel am 9. November. Da jährt sich die  Pogromnacht der Nazis zum 85. Mal.

Weitere Informationen
Yazid Shammout, Vorsitzender der palästinensischen Gemeinde in Hannover und Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, sprechen während einer Pressekonferenz im Neuen Rathaus in Hannover zum gemeinsamen Appell gegen Terror, Antisemitismus und Gewalt. © picture alliance/dpa | Ole Spata Foto: Ole Spata

Gaza-Krieg: Palästinensisch-jüdische Zusammenarbeit in Hannover

Seit rund 20 Jahren versuchen Juden und Palästinenser in Hannover, Verständnis für die Sichtweise des anderen aufzubringen. mehr

Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Antisemitismus ist niemals diskutabel

Seit Tagen ist offensichtlich, dass es in Deutschland manifesten Antisemitismus gibt. Manche sagen, das sei nicht so neu. Ulrich Kühn fragt dennoch: Wie kann das sein? mehr

Volker Beck © picture alliance / dpa Foto: Andreas Arnold

Volker Beck lobt "überfällige" Rede von Robert Habeck

Von den Islamverbänden in Deutschland forderte der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft auf NDR Info eine deutlichere Abgrenzung gegen Juden-Feindlichkeit. mehr

Die Schleswiger Bischöfin Nora Steen. © NDR Foto: Frank Goldenstein

Neue Schleswiger Bischöfin: "Wachsender Antisemitismus besorgt mich"

Nora Steen wurde am Sonntag als neue Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein feierlich eingeführt. mehr

Menschen demonstrieren an der Gedenkstätte in Ahlem. © NDR

Gedenkstätte Ahlem: Mehr als 700 bei Demo gegen Antisemitismus

Unbekannte hatten zuvor judenfeindliche Aufkleber angebracht. Zur Demonstration kamen mehr Menschen als erwartet. mehr

Zwei Polizisten stehen nebeneinander auf einer Straße. © NDR Foto: Julius Matuschik

Antisemitismus? Mahnmal für KZ-Opfer in Osnabrück beschmiert

Eine politische Intention ist nach Auskunft der Gedenkstätte nicht auszuschließen. Der Staatsschutz ermittelt. mehr

Die Sonne scheint auf das Rathaus in Hildesheim. © dpa- picture alliance Foto: Hauke-Christian Dittrich

"Hildesheimer Erklärung" verspricht Schutz jüdischen Lebens

Bei einer Konferenz von Niedersachsens Oberbürgermeistern ging es zudem um Geflüchtete und die Lage kommunaler Kliniken. mehr

Olaf Scholz und Benjamin Netanjahu schütteln sich die Hand. © NDR

Solidarität mit Israel: Was heißt das für die Bundesregierung?

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel gebe es für Deutschland nur den Platz an der Seite Israels, sagte Kanzler Scholz. Aber heißt das auch bedingungslose Solidarität mit der Regierung Netanjahu? mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 07.11.2023 | 07:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Terrorismus

Rechtsextremismus

Linksextremismus

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Szenenbild aus Mozarts "La Clemenza di Tito" © Hans Jörg Michel Foto: Hans Jörg Michel

"La Clemenza di Tito" in Hamburg: Der Funke springt nicht über

"La Clemenza di Tito" ist Mozarts letzte Oper. Nun hat sie in der Hamburger Staatsoper Premiere gefeiert. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage: Demokratie unter Druck?