Stand: 28.08.2020 06:00 Uhr

"Schulen bieten nur Ausbildung, keine Bildung"

Der Vorsitzende der Akademie für Potentialentfaltung Gerald Hüther ist auf einem Porträtfoto vor einer Hecke zu sehen. © www.gerald-huether.de
Der 69-jährige Gerald Hüther ist Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.

Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther setzt sich seit Jahren dafür ein, das Bildungssystem zu reformieren. Derzeit sei die Schule lediglich Ausbildungs- und Aufbewahrungsbetrieb. Entscheidend für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen sei aber eine gute Bildung - und die werde im derzeitigen Schulsystem überhaupt nicht vermittelt, kritisiert Hüther. Er hat zahlreiche Bücher zu den Themen Bildung und Hirnforschung geschrieben. Sein aktuelles Werk heißt "#Education For Future - Bildung für ein gelingendes Leben".

Herr Hüther, gerade hat die Schule wieder begonnen. Das ausgegebene Ziel ist Regelbetrieb, mit so viel Präsenz-Unterricht wie möglich. Vor den Ferien hatte sich der Unterricht durch die Corona-Pandemie total verändert. Die Schüler haben sehr viel zu Hause gelernt, digital gelernt. Birgt eine solche Situation, eine solche Krise auch Chancen?

Hüther: Das hängt davon ab, ob das Kind beziehungsweise der Jugendliche Interesse hat, sich das Wissen zu erschließen. Der Neurobiologe in mir sagt immer: Man kann nur dann etwas lernen, wenn man es auch wichtig findet, Interesse daran hat. Sonst bleibt nichts hängen. Während der Corona-Zeit haben wir gesehen, es gibt Schüler, die beißen da richtig an, vertiefen sich in ein Thema, hören sich im Internet Vorträge an - und sind am Ende richtig stolz, dass sie selbst herausgefunden haben, wie zum Beispiel die Photosynthese funktioniert. Und das bleibt dann auch im Hirn hängen. So wünsche ich mir eigentlich alle Lernprozesse.

So sind sie aber nicht, kritisieren Sie in ihrem aktuellen Buch "#Education For Future". Sie gehen da mit der Schule, wie wir sie kennen, hart ins Gericht - sagen sogar, sie habe ausgedient. Kleine Reformen brächten nichts mehr, es müsse sich grundlegend etwas ändern. Könnte man die Erkenntnisse aus der Corona-Zeit dafür nutzen, um das Bildungssystem zu reformieren?

Ein Schüler hält ein Tablet in der Hand, während er Hausaufgaben macht. © picture alliance Foto: Britta Pedersen
Tablets statt volle Schulranzen: Wie digital sollte die Schule werden?

Hüther: Es ist immer gut, wenn etwas passiert, das die alten, eingefahrenen Muster durcheinanderbringt - sowohl im eigenen Gehirn, als auch in der Gesellschaft. Leider reagieren die meisten Menschen darauf dann allerdings so, dass sie möglichst schnell den gewohnten Zustand wiederherstellen wollen. Und fallen schnell in die alten Muster zurück. Und ich befürchte, dass das unserem Schulsystem im Augenblick auch so geht.

Was müsste stattdessen passieren? Sollten die Schulen Ihrer Ansicht nach noch digitaler werden?

Hüther: Es macht keinen Sinn, die Schulen zu digitalen Zentren aufzurüsten und dann im Unterricht digitale Geräte einzusetzen, um Lerninhalte zu vermitteln. Die Tafel durch ein Whiteboard zu ersetzen halte ich für Quatsch. Aber dass eine Schule einen funktionierenden WLAN-Anschluss haben muss, ist so klar wie das Amen in der Kirche. Und auch, dass jeder Schüler ein Tablet haben sollte - zumindest ab der fünften Klasse, auf dem Lerninhalte geteilt werden mit den Mitschülern, mit den Lehrern. Und dass das Kind auf diesem Tablet alles hat, was früher im Schulranzen war und nicht mehr mit einem schweren Rucksack voller Bücher in die Schule kommen muss, sondern nur das Tablet braucht - das ist die heutige Welt. Und es ist unverzeihlich, dass wir das bis jetzt noch nicht hinbekommen haben.

Kann es auch irgendwann zu digital werden?

Hüther: In Sachen Ausbildung auf keinen Fall - da können Sie tatsächlich über die digitalen Medien unglaublich tolle Lerninhalte vermitteln. Die Schüler können sich das selbstbestimmt und selbstverantwortlich aneignen. Was sie dann allerdings brauchen, ist ein kommunikatives Zentrum. Das heißt, immer wieder einen Ort der Begegnung, des Austausches, wo das digital Gelernte miteinander geteilt und auch mit kompetenten Lehrpersonen besprochen werden kann.

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Schüler eines Gymnasiums sitzen in einer Reihe auf dem Boden und lernen mit einem Tablet. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

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Sie machen einen fundamentalen Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung: Das, was Schule im Augenblick leistet, sei keine Bildung, sondern nur Ausbildung, sagen Sie. Die aber funktioniere auch digital - zum Teil sogar besser, fokussierter und schneller als im Schulunterricht. Eine solche Ausbildung macht fit für den späteren Beruf, Bildung dagegen ist etwas ganz anderes. Im Unterschied zur Ausbildung funktioniert sie überhaupt nicht digital. Wie kann Bildung vermittelt werden?

Hüther: Für Bildung braucht man andere Menschen, mit denen man sich auseinandersetzt und Herausforderungen, an denen man wachsen kann. Im Kern geht es darum, dass ein junger Mensch in die Lage versetzt wird, sein Leben selbstverantwortlich und selbstständig zu meistern. Wenn Sie ins Leben hinausgehen, müssen Sie zum Beispiel Folgen von Handlungen abschätzen können, für sich selbst Verantwortung übernehmen können, mit anderen gemeinsam Probleme lösen können - und auch mit schwierigen Situationen umgehen können. Das können Sie doch nicht unterrichten.

Sondern?

Hüther: Diese Bildung für ein gelingendes Leben kann man nur im realen Leben erwerben. Und zwar nicht durch Auswendiglernen, sondern indem man etwas tut und erlebt. Und diese Erfahrungsräume beschneiden wir immer stärker, indem wir die Schule als Ausbildungseinrichtung so mächtig gemacht haben, dass die jungen Leute inzwischen kaum noch Zeit haben, sich in anderen Bereichen zu betätigen, bei der Feuerwehr zum Beispiel oder im Sportverein. So bekommen wir am Ende mehr oder weniger gut ausgebildete Leute, aber viele von ihnen sind regelrecht lebensuntüchtig.

Wie müsste man die Schule reformieren, um das in Zukunft zu verhindern?

Hüther: Ich versuche schon seit Langem, da Bewegung reinzubringen. Ich war in der Expertengruppe für die Zukunft des Lernens bei Frau Merkel, habe mit vielen Bildungs- und Kultusministern geredet und versucht, ihnen zu zeigen, wie es gehen könnte. Aber sie alle sagen mir: Wir können das nicht durchsetzen, weil die Eltern das nicht verstehen. Ich hatte den Eindruck, die Kultusminister wären schon in der Lage, Schule anders zu gestalten und vieles von dem umzusetzen, was aus neurobiologischer Sicht wichtig wäre. Aber sie wollen es sich mit den Eltern nicht verscherzen - die ja ihre Wähler sind, und in den meisten Fällen der Meinung, dass kein Kind freiwillig lernen will.

Sie glauben, zum Lernen müsse man gezwungen werden - genauso wie, dass man nur arbeitet, weil man Geld verdienen muss. Gegen diese negative Konnotation des Lernens können sie wenig machen. Wir haben unser Buch geschrieben, um deutlich zu machen, worauf es wirklich ankommt, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher die Schule durchläuft und dann ins Leben hinausgeht. Wir wissen alle nicht, was die dann wirklich wissen müssen und in der Schule gelernt haben müssen. Aber eines ist ganz klar: Wenn ein Kind in der Schule seine ihm angeborene Freude am Lernen verloren hat, dann ist es verloren in dieser neuen Welt. Und deshalb müssten wir eigentlich dafür sorgen, dass die Freude am eigenen Entdecken und Gestalten, in einer Gemeinschaft mit anderen, in der Schule niemals verloren geht - und zwar bei keinem Kind.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 28.08.2020 | 06:00 Uhr

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