Verbandschef: "Werden alle auf Dinge verzichten müssen"
Russland hat die Gaslieferung durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 wieder aufgenommen. Eine Garantie für weitere Lieferungen in ausreichender Menge gibt es allerdings nicht.
Die Chemiebranche bereitet sich auch im Norden deshalb auf einen Engpass vor. Allerdings lasse sich in der Branche nur noch bedingt Gas sparen, sagt Jochen Wilkens, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands ChemieNord.
Herr Wilkens, das Gas fließt wieder durch die Pipeline. Aber die Sorge vor der Verknappung bleibt. Wie blicken Sie auf die Situation?
Jochen Wilkens: Erst einmal sollten wir feststellen, dass Putin sich nicht darauf verlassen sollte, dass wir den Gasmangel nicht überstehen. In der Corona-Zeit haben wir in Europa gezeigt, dass wir diszipliniert sein und uns einschränken können. Ich bin davon überzeugt, dass wir das auch bei einer Gasmangellage zeigen werden. Jeder in Deutschland kann einen Beitrag leisten und Einsparungen vornehmen.
Was bedeutet ein möglicher Mangel für Norddeutschland?
Wilkens: Es gibt regionale Unterschiede. Weil die Gaslager in Norddeutschland besser gefüllt sind, sind wir hier derzeit noch auf der entspannteren Seite. Bei einer Gasmangellage wird sicherlich erst mal die Versorgung ist Ost- und Süddeutschland schwierig sein.
Auf die Chemie- und Pharmaindustrie entfällt 15 Prozent des deutschen Gasverbrauchs. Welche Bereiche sind gefährdet?
Wilkens: Es gibt keine weiterverarbeitende Branche, die nicht von uns abhängig ist. Nehmen wir beispielsweise Mehl: Die Produzenten werden weiterhin Gas bekommen. Aber wenn das Mehl verpackt werden soll, wird Papier benötigt. Zur Papierherstellung sind wiederum Chemikalien nötig. Um die Verpackung zu verkleben, wird Klebstoff gebraucht. Und auch der kommt wieder aus der Chemie. An einem so einfachen Produkt lässt sich sehr schnell klarmachen: Wir sind fast überall in der Produktion beteiligt.
Wie bereitet sich die Branche auf den Ernstfall vor?
Wilkens: In den letzten 30 Jahren haben wir bereits wahnsinnig große Einsparungen vorgenommen. Die hohen Gaspreise in Europa und in Deutschland waren dafür ein starker Treiber, um energieeffizient zu sein. Deswegen sind unsere Einsparmöglichkeiten nicht mehr so riesig. Wir können die Produktion herunterfahren oder zu anderen Energiequellen wie Öl und in wenigen Fällen noch Kohle umsteigen. Auch strombasierte Quellen sind denkbar. Das heißt dann aber wiederum auch, dass wir mehr Strom aus dem Netz benötigen.
Wie wirkt sich die Situation auf die Produktion aus?
Wilkens: Das ist mit steigenden Energiepreisen verbunden. Die treffen uns schon jetzt. Einige Gasversorger haben die Preise sehr stark angezogen. Dieser Umstand wird die Marktnachfrage steuern. Am Ende werden wir als Gesellschaft wahrscheinlich auf Dinge verzichten müssen.
Was erwarten Sie von der Politik?
Wilkens: Ganz klar, dass diejenigen, die jetzt ihre Energieversorgung auf Öl oder andere Energieträger umstellen wollen, dies auch schnell können. Dazu brauchen wir den rechtlichen Rahmen im Bundesemmissionsschutzgesetz. Der fehlt derzeit. Jetzt ist Berlin an der Reihe. Allen voran brauchen wir aber den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir würden als Branche gerne noch mehr grünen Strom einkaufen, aber die Verfügbarkeit lässt das leider nicht zu. Mein Wunsch ist es, dass wir jetzt schnell mit dem Repowering von Windparks starten. Die Politik ist gefordert, jetzt schnell zu handeln.