Ein Stasi-Archiv voller Aktenordner.

Einsicht in die Stasi-Akten: Das "gewollte Nichtwissen"

Stand: 12.11.2022 08:11 Uhr

Viele Menschen zögern, sich ihre Stasi-Akten anzusehen. Ein Psychologe und eine Historikerin haben nachgefragt, warum das so ist.

von Jette Studier, NDR aktuell

Sie sind ein Erbe der Friedlichen Revolution: die geöffneten Stasi-Akten. 111 Regal-Kilometer stehen heute noch jedem offen, der sich mit seiner eigenen Geschichte in der SED-Diktatur auseinandersetzen will. Zwei Millionen Menschen haben das in den vergangenen 30 Jahren getan. Doch das heißt auch: Viele beantragen keine Akteneinsicht, wollen sich mit dem, was sie darin eventuell erwarten könnte, nicht auseinander setzen. Welche Gründe diese Menschen für ihre Entscheidung hatten, das wollte ein Forschungsteam aus Berlin und Dresden wissen. Der Psychologe Ralph Hertwig und die Historikerin Dagmar Ellerbrock suchten unter anderem über Zeitzeugenaufrufe in Interviews nach ihnen, organisierten in Dresden eigens eine offene Gesprächsrunde und stießen entgegen ihrer Erwartung auf großen Gesprächsbedarf: "Am nächsten Tag sind unsere Telefone heiß gelaufen", sagt Dagmar Ellerbrock: "Es haben sich innerhalb von zwei Tagen über 160 Menschen gemeldet, die gern an diesem Projekt teilnehmen wollten." 

Furcht vor Vertrauensverlust

In einer kürzlich veröffentlichten Studie haben die Forscher die Ergebnisse ihrer Interviews zusammengefasst. Der mit Abstand am häufigsten genannte Grund mit 78,4 Prozent der Befragten war, dass die Informationen in den Akten nicht mehr für das heutige Leben von Bedeutung seien. Jeweils mehr als 50 Prozent hatten aber auch Bedenken, dass Kollegen (58,2 Prozent) oder Familienangehörige und Freunde (54,5 Prozent) sie bespitzelt haben könnten. Fast genau so viele (44 Prozent) fürchteten, anderen nicht mehr vertrauen zu können. 

Schutz sozialer Beziehungen wichtig

Die Forscher nennen dieses Phänomen "gewolltes Nichtwissen". Den Menschen sei der Schutz ihrer sozialen Beziehungen wichtiger als Politik, so Historikerin Ellerbrock. Ein wichtiges Ergebnis sei aber auch, dass sich diese Motive im Laufe des Lebens ändern könnten: "Zum Beispiel haben Menschen gesagt: ‚Ich möchte heute keine Einsicht nehmen, aber wenn ich pensioniert bin, dann möchte ich gerne Einsicht nehmen in meine Akte.'“ Noch etwas fiel bei der Betrachtung der Ergebnisse auf: Keiner der Befragten hatte Gewalt oder Haft in der DDR erfahren. Diese Menschen wollten durchaus Einsicht nehmen und in den Akten nach Antworten suchen, erklärt Historikerin Ellerbrock. Aufklärung und Einsichtnahme seien nötig, "um eine stabile Demokratie zu bauen", betont sie. Aber auch das Nichtwissen schütze für einige eben Familien und Freundschaften. Es gehe nicht darum, die Menschen in dieser Frage gegeneinander auszuspielen.

Lücken im Lebenslauf aufarbeiten

Zu Volker Höffer, der die Außenstelle des Bundesarchivs in Rostock leitet, kommen die Menschen, die sich dazu entschieden haben, ihre Akte zu sehen. Auch er berichtet, dass viele dabei auf das Ende ihres Berufslebens warten, weil sie erst dann den Kopf frei hätten für ihre Vergangenheit. Oft gehe es aber auch darum, Lücken im Lebenslauf für die Rente aufzuarbeiten - etwa bei früheren Berufsverboten. Auch er kennt die Angst vor dem, was in den Akten stehen könnte. Deshalb rät Höffer allen, die in seine Beratung kommen, dass sie in der Lage sein müssten, mit dem Gefundenen umzugehen: "Es liegt einfach in der Natur dieser Akten oder dieser Geheimpolizei, dass die nicht das Positive im Menschen gesucht haben, sondern den Dreck aufgewühlt haben.“

Mehr Anträge von Kindern und Enkeln

Er beobachtet, dass heute das Interesse an den Akten bei den Nachfahren der Betroffenen zugenommen hat. Denn seit etwa zehn Jahren können nahe Verwandte, oft Kinder und Enkel, Einsicht in die Akten Verstorbener nehmen. Sie hoffen, damit das Schicksal ihrer Familie in der Diktatur aufzuklären. Höffer erzählt von einer Frau, deren Vater nach mehrjähriger Haft in den 1960er-Jahren als gezeichneter Mann das Gefängnis verließ. Das habe natürlich auch die Familie beeinflusst. Nach seinem Tod suchte die Tochter nach Antworten: "Sie wollte einfach wissen: Was hat den dazu gebracht? Warum ist der so gewesen, wie er gewesen ist?" Erst kürzlich habe der Enkel einer Bauern-Familie, die während der Zwangskollektivierung enteignet wurde, einen Antrag gestellt. Die Großeltern hätten das nicht gekonnt, aber ihr Enkelsohn wollte die Geschichte klären, die seine Familie bis heute beschäftigt. Mittlerweile, so Höffer, werden etwa 15 bis 20 Prozent aller Anträge von näheren Verwandten gestellt.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 12.11.2022 | 12:00 Uhr

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