Szene aus dem Film "Alcarràs" von Carla Simón © LluísTudela

Europäischer Filmpreis 2022: Wie geht's dem europäischen Film?

Stand: 10.12.2022 19:00 Uhr

Das europäische Kino steckt in der Krise. Die 35. Verleihung der Europäischen Filmpreise in Reykjavík bot der Filmkennerin und "Tagesspiegel"-Redakteurin Christiane Peitz 2022 Anlass für eine Bilanz.

von Christiane Peitz

Kein europäisches Land schreibt bislang vorpandemische Besucherzahlen, überall ging der Ticketverkauf dramatisch zurück. Welche Geschichten werden denn zurzeit im Kino erzählt? Wie meistert die Filmbranche die Herausforderungen der Pandemie, des Ukraine-Kriegs und nun auch noch der Energiekrise? Und vor allem: Wie lässt sich das Interesse des Publikums für Produktionen der Nachbarländer neu wecken? Christiane Peitz, Kulturautorin und Redakteurin beim Berliner "Tagesspiegel", ist eine exzellente Filmkennerin. Und sie weiß genau, dass Klagelieder nicht neu sind, wenn es um europäische Angelegenheiten geht.

Die Crux des europäischen Films

Christiane Peitz © IMAGO / APP-Photo
Christiane Peitz, Kulturautorin und Redakteurin beim Berliner "Tagesspiegel", weiß genau, dass Klagelieder nicht neu sind, wenn es um europäische Angelegenheiten geht.

Ach Europa, möchte man in Erinnerung an den berühmten Essay des kürzlich verstorbenen Hans Magnus Enzensberger rufen, wenn es ums europäische Kino geht und jetzt wieder die europäischen Filmpreise vergeben werden. Enzensbergers ironische Utopie erschien 1989 und galt einem Europa der Wünsche. Auch die Gründung der European Film Academy, deren inzwischen knapp 4.500 Mitglieder über die Vergabe der Preise entscheiden, war ein Jahr zuvor ein visionärer Akt, eine Beschwörung der kulturellen Einheit des noch vom Eisernen Vorhang geteilten Kontinents. Aber haben sich manche Nationalismen seitdem nicht noch verstärkt?

Damals, 1988, bedankte sich Krzysztof Kieslowski, der erste Preisträger, mit dem Satz: "Ich hoffe, Polen liegt in Europa". Politisch tut es das längst, aber wann hat sich unsereins zuletzt einen polnischen Film angeschaut? Die Crux des europäischen Films ist mindestens so alt wie die EU: die schiere Unüberwindbarkeit der Sprachbarrieren und die Zersplitterung in kleine, kaum profitable Märkte.

Ob in Spanien, Ungarn oder Deutschland: Wer ins Kino geht oder Filme streamt, der entscheidet sich in aller Regel für eine US-Produktion oder für einen einheimischen Titel. Die europäischen Nachbarländer mögen als Urlaubsziele attraktiv sein, ihre Bildergeschichten, ihr Komödienhumor schaffen es selten über die Grenzen. Auch die Schauspieler der anderen kennen wir kaum, höchstens die Stars der Filmnation Frankreich.

Dramatischer Rückgang beim Ticketverkauf

Sieben der zehn in Europa erfolgreichsten Filme waren 2021 amerikanische Blockbuster; auch an den übrigen Top-Ten waren die USA beteiligt, wie am britischen Bond-Film "Keine Zeit zu sterben". Was die Filmtheater betrifft, konnten zahlreiche Hilfspakete und Fördermaßnahmen ein großflächiges Kinosterben bislang zwar verhindern, aber die meisten Sonderfonds laufen bald aus.

Kein europäisches Land schreibt wieder vorpandemische Besucherzahlen, überall ging der Ticketverkauf dramatisch zurück. Die ältere Generation, traditionell das Stammpublikum für den in Europa besonders starken Arthouse-Bereich, hat die Annehmlichkeiten des Streamings entdeckt; die Jungen wachsen ohnehin mit Youtube und Netflix auf. Der Wandel der Mediennutzung hat durch Corona einen zusätzlichen Schub erfahren.

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Mögliche Filmpreis-Anwärter: "Triangle of Sadness" und "Alcarràs"

Das Kino in der Krise, mit Filmen über die Krise, so könnte man den aktuellen Jahrgang 2022 bilanzieren. Zu den Favoriten für den Hauptpreis bei den European Film Awards zählt Ruben Östlunds sarkastische, in Cannes mit der Palme ausgezeichnete Komödie "Triangle of Sadness" über die Dekadenz der Superreichen. Ein Kreuzfahrt-Ozeanriese erleidet Schiffbruch, die Upperclass landet auf einer einsamen Insel und ist auf die Überlebenspraktiken des Dienstpersonals angewiesen.

Die Schiffbruch-Metapher passt ins Bild einer stürmischen Gegenwart: Der 2020 erschienene Band zum europäischen "Cinema of Crisis" versammelt Aufsätze über die Sozialdramen der Gebrüder Dardenne und von Ken Loach, über Filme zur Finanzkrise, zum Neoliberalismus, über Wohnungsnot, Migration und die Abschottung der Festung Europa. Auch die Ästhetik der Autounfälle in den Produktionen der Berliner Schule wird thematisiert.

Mit dem Berlinale-Gewinner "Alcarràs" der Katalanin Maria Simón gehört zu den Filmpreis-Anwärtern ein weiteres Drama, das von existenzbedrohenden Veränderungen erzählt. Eine Familie von Pfirsichbauern trifft sich zum letzten Mal zur Sommerernte auf ihrer Plantage. Das Pachtland soll für einen Solarzellen-Park zwangsgeräumt werden, den Bauern droht die Arbeitslosigkeit.

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Serien als große Film-Konkurrenz

Klimawandel, Energiekrise, die Pandemie mit ihren Lockdowns, Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, Inflation, Fachkräftemangel - all das macht auch der Filmbranche zu schaffen. Überall in Europa ist inzwischen zwar wieder eine hohe Produktionstätigkeit, vor allem Koproduktionstätigkeit zu verzeichnen. Aber viele Kinofilmschaffende klagen über die Schwierigkeit, gute Crews zusammenzustellen, weil sich Kameraleute, Ausstatter oder Beleuchter längerfristig bei den Serien verpflichtet haben.  

Die polnische Regisseurin und Filmakademie-Präsidentin Agnieszka Holland hält jedoch nicht viel vom Lamentieren. "Raus aus der Komfortzone, wir müssen bessere Filme machen", rief sie vor zwei Jahren beim Branchen-Panel "From survival to revival". Wiederbelebung statt bloßes Überleben: Holland hält es für ein Versäumnis der Europäer, keine eigenen Streamingportale gestartet zu haben. Sie selbst arbeitet längst auch für Apple TV oder Netflix.

Höhere Diversität im europäischen Film

Die gute Nachricht, allen Dilemmata zum Trotz: Der europäische Film bleibt seiner gesellschaftspolitischen Tradition und seiner Nähe zu den Träumen und Alpträumen der Menschen treu und geht zugleich mit der Zeit. Zum Beispiel mit dem "European Green Deal", einem Projekt der Europäischen Kommission, und einem erstmals vergebenen Nachhaltigkeitspreis. Und auch mit sichtlich höherer Diversität, etwa einer größeren Anzahl von Regisseurinnen bei den Filmpreis-Nominierungen.

Vicky Krieps raucht als Kaiserin Elisabeth (Sissi) im Kinofilm "Corsage" von Marie Kreuzer © Ricardo Vaz Palma / Alamode Film Foto: Ricardo Vaz Palma
Die Wiener und Regisseurin Marie Kreutzer widmet ihr das Drama "Corsage" mit Vicky Krieps in der Hauptrolle und nähert sich der Kaiserin kurz vor deren 40. Geburstag.

Wenn Marie Kreutzer, deren Historiendrama "Corsage" ebenfalls Chancen auf den Hauptpreis hat, dem Kitsch-Bild von Kaiserin Sissi das Porträt einer in Zwängen erstickten und sich in einem kühnen Selbstermächtigungsakt befreienden Monarchin entgegensetzt, erzählt sie auch die Geschichte der Frauen in Europa neu. Der in Dänemark lebende Exil-Iraner Ali Abassi hat sein düsteres Frauendrama "Holy Spider" in seinem Heimatland angesiedelt - so wird im Kreis der Nominierungen auch der iranischen Protestbewegung Respekt gezollt.

Vielleicht liegt in diesen Tagen auch der Iran in Europa. Über die von ihr mitgegründete "International Coalition for Filmmakers at Risk" unterstützt die Akademie den kürzlich ins Leben gerufenen ersten unabhängigen Verband iranischer Filmschaffender. Die Initiative engagiert sich selbstverständlich auch für die ukrainische Branche, etwa indem sie Geld und Material für diejenigen organisiert, die den Krieg zu dokumentieren versuchen. Einer dieser Filme, "Mariupolis 2" über das Leben während der Bombardements von Mariupol, geht bei den Dokumentarfilmen ins Rennen. Der litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius wurde von russischen Soldaten erschossen, seine Lebensgefährtin stellte die Arbeit fertig.

Die Verletzlichkeit des kulturellen Europa

Und dann ist da noch der Boykott russischer Produktionen. Wie hältst du es mit dem Boykott? Es ist die Gretchenfrage in der europäischen Kulturszene, und hier hat die Academy den Bogen überspannt. Sie schloss auch Filme von schikanierten russischen Regimekritikern wie Kirill Serebrennikow bei der Preisverleihung aus - als hätten sie keine Unterstützung verdient. Der ukrainische Dokumentarist Sergei Loznitsa trat wegen des Komplett-Boykotts schon im Frühjahr aus der Akademie aus. Auch wenn er mitunter polarisiert: Dass Loznitsa seinerseits aus der Ukrainischen Filmakademie verbannt wurde und am Ukraine-Tag in Venedig auf den Panels fehlte, obwohl das Festival einen Film von ihm zeigte, spaltet Europa am Ende mehr, als dass es für solidarischen Zusammenhalt sorgt.

Gerade die Vielstimmigkeit des Kontinents gehört zu seinen Stärken, das Austragen von Differenzen, auch das Aushalten von Dissens. Academy-Geschäftsführer Matthijs Wouter Knol betont dann auch die Gleichzeitigkeit des Reichtums und der Verletzlichkeit des kulturellen Europa. "Wir sehen, was passiert, wenn man sich nicht mehr versteht, etwa weil Medien manipuliert werden oder sehr einseitig berichten", sagte Knol kürzlich dem Magazin "Blickpunkt Film". Die Menschen glauben dann Dinge über ihre Nachbarn, die nicht stimmen. Ein gutes Mittel dagegen sei das Geschichtenerzählen.

Kampf um die Sichtbarkeit europäischer Filme

Ach ja, Europa: Wie kann es gelingen, dass mehr Filme die Sprachbarrieren überwinden? Das Budget des Brüsseler Media-Kulturprogramms für Koproduktionen und grenzüberschreitende Sichtbarkeit beträgt nur gut 0,2 Prozent des Gesamtetats der Europäischen Kommission. Immerhin hat die European Film Academy sich diese Sichtbarkeit verstärkt zur Aufgabe gemacht und den Monat des Europäischen Films ausgerufen. Kinos in 35 Ländern beteiligen sich, stellen seit Mitte November Programme mit aktuellen Titeln zusammen, pflegen das Erbe und die Inklusion. Mit einer Pasolini-Retrospektive in Bukarest oder auch einem Kurzfilm-Programm für an Demenz erkrankte Menschen in Dänemark - um nur zwei Beispiele zu nennen. Beteiligt ist auch der Arthouse-Streamingdienst Mubi, der für seine Abonnenten hundert europäische Filme bereitstellte.

Wir und die Nachbarn, die Filmtheater und die Streamingportale: Die Gemeinsamkeiten in vielerlei Hinsicht zu stärken, das ist noch wichtiger, als eine Gala, bei der Statuetten verteilt werden und Stars über den roten Teppich laufen.

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Der schwedische Regisseur Ruben Östlund mit seinen Schauspielern Jean-Christophe Folly (l-r), Vicki Berlin und Woody Harrelson beim Photo-Call zu "Triangle of Sadness" in Cannes, wo der Film im Wettbewerb läuft © IMAGO / TT

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 10.12.2022 | 13:05 Uhr

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