Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung aus muslimischer Sicht
Die Erwartungen an die neue Bundesregierung sind groß. Was erwartet die muslimische Community von der Ampel? Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek hat sich in seinem Kommentar Gedanken gemacht.
Der neue Koalitionsvertrag macht vor allen anderen Dingen eines: neugierig! Wir sehen bei der sich konstituierenden Regierung gleich zwei Premieren: Es ist die erste Koalition auf Bundesebene, die sich aus drei Parteien zusammensetzt, und wir werden erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte einen Kanzler haben, der sich selbst als konfessionslos bezeichnet. Auch der Grünen-Politiker Robert Habeck und Christian Lindner von der FDP sind konfessionslos.
Muslime finden endlich ausdrückliche Beachtung
Religiöse wie Nichtreligiöse stehen ebenso für eine vielfältige Gesellschaft wie Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Ethnien. Im Koalitionsvertrag wird diesem Umstand in vielfältiger Weise Rechnung getragen, ob in den Bereichen der Partizipation und Inklusion, beim Thema Diskriminierung oder dem Versagen im Bereich Rassismusaufarbeitung bis hin zum essentiellen Bildungsbereich. Im Mittelpunkt aber stehen weitere gewaltige Herausforderungen: Klima, Pandemie, soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung und weltweite Migration. Mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind Teil einer Glaubensgemeinschaft. Da darf die Religion nicht außer Acht gelassen werden. Und so finden sich allseits bekannte Zusicherungen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit ihren vielfältigen seelsorgerischen Angeboten und Wohlfahrtseinrichtungen weiter als festen Partner des Staates wertzuschätzen. Muslime finden im Gegensatz zu vorangegangenen Koalitionsverträgen, wo sie weitestgehend im Kontext Sicherheit und Extremismusbekämpfung Erwähnung fanden, nun endlich auch ausdrückliche Beachtung. So werden muslimische Einrichtungen und die sie prägenden Menschen als wichtiger und schützenswerter Teil der Gesellschaft gesehen. Und das Religionsverfassungsrecht soll gemeinsam mit den muslimischen Gemeinden weiterentwickelt werden.
Erfreulich, dass diese mehrfach im Koalitionsvertrag angesprochenen Punkte im Kontext demokratiestabilisierender und stärkender Maßnahmen betont werden, was sie zweifelsohne auch sind.
Es müssen Lehren aus Hanau und Halle gezogen werden
Jeder Form von Hass und Diskriminierung, die in der Gesellschaft weiter zunehmen, muss entgegengetreten werden. Projekte und Maßnahmen müssen realisiert werden, um diesen zunehmenden Ressentiments Paroli zu bieten. Es müssen Lehren aus Hanau und Halle gezogen werden, um solche Taten zukünftig zu verhindern.
Über 160 Mal kommt im neuen Koalitionsvertrag das Wort "digital" vor. Zweifelsohne muss im Netz mehr getan werden, auch um radikalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen. Deutschland hat da viel aufzuholen. Im Laufe der Pandemie wurde zudem deutlich, welches Potenzial in digitalen Angeboten und Dienstleistungen steckt. Dafür muss aber eine entsprechende Infrastruktur her, die bisher fehlt.
Eine Jahrhundertaufgabe: Die Bekämpfung des Klimawandels
Zu den weiteren großen Themen, die uns alle betreffen, gehört die Bewältigung des Klimawandels. Dessen will sich die Ampel-Regierung annehmen. Bürgerinnen und Bürger, zumal auch Muslime, können und sollen da ihren Beitrag leisten. Vielleicht hätte der Koalitionsvertrag noch mehr Anreize zur Förderung dieser Eigenverantwortung setzen können. So gibt es beispielsweise von Muslim*innen geführte Unternehmen und Initiativen, die Organisationen und Einrichtungen helfen, nachhaltiger und klimagerechter zu werden - sei es im Wohnungsbau, im Bildungs- oder Veranstaltungsbereich.

Aber bei diesem großen Thema kommt es auf den einzelnen Bürger und auch auf Religionsgemeinschaften an. Diese Jahrhundertaufgabe muss tatkräftiger, sichtbarer und engagierter angegangen werden. Noch kommt da insgesamt zu wenig. Wir müssen ganzheitlich und gemeinschaftlich diese Aufgabe anpacken - ganz gleich ob nun religiös oder nicht. Es gilt, verantwortungsvoller für die Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Das sind wir nicht nur zukünftigen Generationen schuldig, sondern - und das sage ich ausdrücklich als gläubiger Mensch - hierzu werden wir auch vor Gott eines Tages Rechenschaft ablegen müssen. Viel Zeit zum Handeln bleibt uns nicht mehr.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
