Reeperbahn Festival Impressionen © NDR Foto: Jennifer Philipp

Reeperbahn Festival Tag 3: Spiel mit Geschlechterrollen und perfekte Shows

Stand: 21.09.2024 08:31 Uhr

Menschenmassen auf dem Kiez und volle Clubs, dabei beste Stimmung. Auch der dritte Tag von Europas größtem Clubfestival präsentiert sich als ideale Plattform - um Neues zu entdecken und in Wunden der Branche zu bohren.

von Jennifer Philipp

Der Freitag beginnt mit Ernüchterung. Die Ergebnisse der dritten von der Festivalleitung beauftragte Keychange-Studie werden im East Hotel veröffentlicht. Sie geben Auskunft über die Lage in der Musikbranche und zeigen eines ganz deutlich: Es besteht Handlungsbedarf.

Mehr als drei Viertel aller befragten Akteurinnen und Akteure gab an, bereits rassistische, sexistische oder das Alter betreffende Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Die Teilnehmenden bewerten die Situation zum Teil kritischer als bei der letzten Keychange-Studie vor drei Jahren. Eine Datenbasis, die Diskussionen nach sich ziehen wird. 

Rapper Curse über den Wiedereinstieg ins Hip-Hop-Geschäft

Eine Form des Dialogs findet am frühen Abend im Imperial Theater statt. Die Berliner Podcasterin Julia Gröschel hat Rapper Michael Sebastian Kurth alias Curse zur Live Session ihres Podcasts "Hip Hop lebt - Der 360° Kultur Podcast" eingeladen. Er habe nach einer Stimmverletzung und über die Pandemie hinweg sechs Jahre lang "einen anderen Fokus" im Leben gehabt, erzählt der 46-Jährige. Kürzlich erschien sein neues Album "Unzerstörbarer Sommer".

Reeperbahn Festival Impressionen © NDR Foto: Jennifer Philipp
Die Berliner Podcasterin Julia Gröschel hat Rapper Curse zum Dialog im Imperial Theater geladen.

Curse ist zurück im Musikbusiness, das sich verändert hat. Zum Guten? Ja, sagt der gebürtige Mindener. Er genieße die Freiheit, die ihm die neuen Verhältnisse am Markt ermöglichten. Social Media habe nicht nur Vorteile, in seinem Business sprenge sie aber Ketten. TikTok und Co. ermögliche Newcomern und auch Etablierten, sich mehr auf eigene Interessen zu besinnen als auf die Interessen anonymer Finanziers. Curse weiß: "Als Künstler muss man machen, was einem am Herzen liegt."   

Newcomerin Kässy rockt futuristisch

VIDEO: N-JOY Reeperbus: Kommt vorbei! (1 Min)

Diese Überzeugung teilt auch Newcomerin Kässy. Die Wienerin tritt am Freitag im Grünspan auf. Sie gehört zu den Nominierten für den Anchor Award, der vielversprechende Musiktalente auszeichnet. Kässy rockt die Bühne. Ihre Optik erinnert an Amy Winehouse. Auch sie unterstreicht ihren markanten Style mit schwarzem Kajal. Ungezwungen trägt sie ein weißes Top, an dem sie sich verkrampft festhält, wenn sie sich wiederholt in Extase singt.

Reeperbahn Festival Impressionen © NDR Foto: Jennifer Philipp
Wienerin Kässy rockt die Bühne. 

Kässy liefert eine klassische Rockshow, tanzt durch Nebelschwaden und klingt dabei doch futuristisch. Versunken in ihrer Musik marodiert sie über die Bühne, um pünktlich zum Einsatz standfest am Mikro zu stehen. Dass ihre Haare teils das ganze Gesicht verdecken, scheint sie nicht zu stören, sie singt ungehindert weiter. Das Haar fällt zu gegebener Zeit zurück, als sie weitere ausschweifende Bewegungen macht. Kässy wirkt, als wäre sie in ihrer Musik angekommen - wo das ist, weiß außer ihr vermutlich noch niemand.

Skate-Profis um Tyler Edtmayer sorgen für Unterhaltung 

Auch nicht-musikalische Attraktionen bietet das Festival. Am frühen Abend versammeln sich viele Festivalbesucher und -besucherinnen am Skatepark im Village auf dem Heiligengeistfeld, um Tyler Edtmayers Skate-Show zu bewundern. Der 23 Jahre alte Olympiateilnehmer gibt seine Tricks mit Kollegen zu coolen Sounds vom DJ-Pult zum Besten. Bekannt ist der mehrfache deutsche Meister für seine beeindruckenden "Airs", also Sprünge, bei denen er für einen Moment zu fliegen scheint. Nebenan spielen Kinder Tischtennis, daneben Buden mit Streetfood, Drinks und anderer Unterhaltung.

Am Wochenende staut es auf der Reeperbahn 

Skateboarder © NDR Foto: Jennifer Philipp
Profiskater sorgen für Unterhaltung auf dem Festival Village am Freitag.

Die Skate-Performance endet gegen 19 Uhr. Und jetzt wird klar: Die Tage der Bewegungsfreiheit in den Clubs und zu den Locations sind vorbei. Tausende flanieren über den Kiez. Da ist es gar nicht so leicht, zum nächsten Gig zu kommen. Hilfreich für die vielen Festivalgäste sind die Ampeln in der App. Hier lässt sich einsehen, ob das favorisierte Konzert noch zugänglich (grün), stark gefragt (gelb) oder voll (rot) ist. Das spart vergebliche Wege. 

Good Neighbours lösen Glücksgefühle aus

Vom Heiligengeistfeld zur Großen Freiheit dauert es an diesem Abend ein Weilchen und es braucht gute Nerven. Zum Glück steht die Ampel in der App 15 Minuten vor Konzertbeginn der Londoner Band Good Neighbours noch auf grün. Das wird sich jedoch schnell ändern, denn die attraktiven Indie-Folk-Musiker sind bekannt für ihre tollen Partys.

Als sie die Bühne betreten, steigt die Laune im Club. Frontmann Oli Fox trägt eine eher unvorteilhafte Trainingshose, auf seinem Shirt ist zu lesen: "I look so good, I could cry“ (Ich sehe so gut aus, dass ich schreien könnte.) Später wird sich herausstellen, dass dies eine Zeile aus dem Song "Daisies" ist. Die Wirkung ist dennoch absurd und sympathisch zugleich. Fox tobt über die Bühne, unternimmt ausgelassene Aerobic-Moves, versetzt seinen ganzen Körper in Wellenbewegungen. Übermütig trommelt er seinem Drummer auf die Becken.

Reeperbahn Festival Impressionen © NDR Foto: Jennifer Philipp
Als die Good Neighbours um Frontmann Oli Fox die Bühne betreten, steigt die Laune im Club rapide.

Die weichen Kopfstimmen der Band erinnern an die 80er, wirken fröhlich und frisch. Einige Menschen im Publikum freuen sich wie kleine Kinder über die positiven Sounds, die bunten Lichter und die mitreißende Performance. Dass die übersteuerten Bässe einem in den vorderen Reihen zeitweise auf den Brustkorb drücken, tut weh, stört aber nicht. Dieser Band verzeiht man gern. 

Newcomerin Beth McCarthy orientiert sich an Lavigne, Cyrus & Co. 

Um 20 Uhr startet die nächste Newcomerin im Grünspan. Die pinkhaarige Beth McCarthy orientiert sich bei ihren Performances an den Größen des Business', Avril Lavigne oder auch Miley Cyrus, etwa. Auch Songs von Pink covert sie an diesem Abend, räkelt sich auf der Stage und flirtet mit Kameras und ihrem Gitarristen. Ihre Show ist nicht auf stimmliche Höchstleistungen, sondern auf Entertainment ausgelegt. Zwei Zuschauerinnen aus Hamburg verlassen enttäuscht den Club. Andere stören sich nicht an diesen Schwächen. Ein junges Paar aus Schwerin fühlt sich gut unterhalten von der Britin. Musik ist auch Geschmackssache.

Strongboi spielt mit Geschlechterklischees

Reeperbahn Festival Impressionen © NDR Foto: Jennifer Philipp
Elfengleich tänzelt Strongboy-Frontfrau Alice Phoebe Lou über die Bühne.

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die auf die Resonanz des Publikums angewiesen sind, um ihre Performance zu steigern. Strongboi gehören nicht dazu. Die Band aus Berlin, die mit Geschlechterrollen spielt und viel Mut zur Selbstironie hat, bildet einen eigenen Kosmos. Elfengleich tänzelt Frontfrau Alice Phoebe Lou über die Bühne. Bandname, der schon die Männlichkeit konterkariert, und Sängerin befinden sich in einem stilistisch diametralen Verhältnis zueinander. Die zarte Blondine ist ungeschminkt und trägt grüne, kurze Hosen zu Turnschuhen. Im Background haben die Musiker Sonnenbrillen, teils Perücken und spielen mit Stereotypen. Das Bühnenbild wird zum Gesamtkunstwerk. Ihre Indie-Musik reißt nicht unbedingt vom Hocker, aber die Show der Band bleibt im Gedächtnis - wie so vieles an diesem dritten Tag des Reeperbahn Festivals.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 18.09.2024 | 19:00 Uhr

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