Marius Müller-Westernhagen vor einem Auto © Olaf Heine

Müller-Westernhagen: Nachdenklich, kritisch, aufmerksam

Stand: 21.05.2022 09:08 Uhr

Nach acht Jahren Pause hat Marius Müller-Westernhagen sein 23. Studioalbum mit dem Titel "Das eine Leben" veröffentlicht. Im Interview spricht er über die Geschehnisse unserer Zeit und sieht eine zunehmende Oberflächlichkeit.

Marius Müller-Westernhagen ist eine feste Größe in der deutschen Popmusik. Nach einem erfolgreichen Unplugged-Album und dem "Pfefferminz-Experiment", hat er jetzt ein Album mit neuen Songs veröffentlicht. Es sind die ernsten, nachdenklichen und aktuellen Fragen, die ihn beschäftigen. Was treibt den Musiker um? Die Pandemie, ihre Folgen, eine gespaltene Gesellschaft. Bei NDR Kultur à la carte sprach Müller-Westernhagen mit Redakteur Ocke Bandixen über Vergangenes, über den "Zeitgeist", so heißt ein Titel seines neuen Albums, und die großen Umwälzungen in der Musiklandschaft.

In dem Song "Zeitgeist" ist sehr offensichtlich, dass er eine Reflexion auf das ist, was mit unserer Gesellschaft womöglich passiert. Dass vielleicht etwas in Schieflage geraten ist. So verstehe ich es zumindest. Oder wie sehen Sie das?

Marius Müller-Westerhagen: Ja, und auch bei einem selbst oder bei mir selbst. Aus der Pandemie, die für uns hier eine vollkommen neue Situation war, die wir alle nicht kannten, ist auch eine politische Lage entstanden, die wir nicht kannten. Wo auf einmal Rationalität keine Rolle mehr spielt. In einer Gesellschaft, wo auf alles hysterisch reagiert wird, wo aufgeblasen wird, wo Menschen in einer Art und Weise egoistisch geworden sind. Das waren alles sehr, sehr schleichende Prozesse. Die Pandemie hat, glaube ich, dazu geführt, dass auf viele Sachen, die wir verschlafen haben, ein Brennglas gehalten wurde. Auf einmal waren wir gezwungen, darüber nachzudenken.

Im Sinne einer Konzentration?

Müller-Westerhagen: Ja, und das in der Zeit, wo vieles wegfiel, was einen sonst betäubt hat. Es findet eine ständige Manipulation statt - von allen Seiten. Man wird mit sehr, sehr vielen Informationen versorgt. Zu vielen, die wir gar nicht verarbeiten können. Das ist auch eine Folge der digitalen Revolution. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Es überrollt uns und leider mit keinem so guten Ergebnis. Diese Situation ist im Augenblick für Demokratien höchstgefährlich, finde ich.

In einem anderen Lied, "Spieglein, Spieglein an der Wand", heißt es "Aufmerksamkeit ist eine Droge". Da geht es um die schnelle Aufmerksamkeit, um eine Oberflächlichkeit - sich mit Dingen nicht richtig auseinanderzusetzen oder sie wirklich zu durchdenken?

Müller-Westernhagen: Nicht zu durchdenken ist auch besonders schlimm für Kunst und Kultur, denn du verlierst die Substanz. Die Verpackung und die Vermarktung wird immer wichtiger. Und das, was ein Künstler sagen will, wird immer unwichtiger. Natürlich stört das jemanden aus meiner Generation, aber Gottseidank habe ich mich nie daran halten müssen. Das ist wirklich der Vorteil, dass ich eine Zeit lang halt auch Geld verdient habe und nie auf zu großem Fuß gelebt habe. Dass ich mir das leisten kann. Ich produziere Platten nach wie vor, wie zu der damaligen Zeit. Diese Möglichkeit haben nicht viele. Und ich bin sehr dankbar dafür. Aber für mich ist es sehr, sehr wichtig, sehr genau und im Detail zu arbeiten. Denn ich tue das in erster Linie für mich. Und das ist auch meine Befriedigung. Ich möchte mich in dem, was ich mache, wiedererkennen und nicht vorher darüber nachdenken: Wer kann das kaufen? Kann ich damit Erfolg haben oder nicht. Das muss alles aus dem Kopf, denn in dem Augenblick arbeitest du mit Kalkül. Und dann kommt es auch nicht mehr ausschließlich von dir, sondern aus den Köpfen von was weiß ich wie viel hunderten Leuten. Das will ich nicht. Ich frage keinen: Wie findest du das? Denn das beeinflusst einen. Das irritiert mich.

Das letzte Material mit frischen Songs von Marius Müller-Westernhagen ist schon einige Jahre her ...

Müller-Westernhagen: Das ist für mich erschreckend gewesen! Acht Jahre!? Entweder hatte ich nichts zu sagen, das kann auch sein. Oder die Zeit vergeht so schnell.

Vielleicht haben diese neuen Songs auch nur dann die Wirkung. Ich finde, Ihre Kritik fällt deutlich aus: an einer oberflächlichen, vielleicht auch medialen Welt, an einer Social-Media-Welt. Dass vieles ganz schnell durchgejagt wird, schnell Aufmerksamkeit entzündet werden soll und dann wieder vergangen ist. Wie wäre es, heute noch einmal anzufangen als Musiker? Ich weiß, dass sie einige Alben gemacht haben, die nicht so ein großes Publikum erreicht haben, bis zum Beispiel das Pfefferminz-Album 1978 rausgekommen ist. Ist es schwer, heute als Künstler neu anzufangen? Was würden Sie sagen?

Müller-Westernhagen: In einigem leichter und auf der anderen Seite ist es sicher schwerer. Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der Rockmusik zu einer Kunstform wurde, und die Tür dafür offen war. Durch diese extreme Vermarktung hat die Industrie irgendwann begriffen, vielleicht kann man es mit Geld irgendwie regeln. Das Motiv war ja nie, Karriere zu machen oder Geld zu verdienen. Das war eine Illusion. Als junger Mensch träumst du davon, berühmt zu werden, Da es aber wirklich als unmöglich erschien, jemals ins Studio zu dürfen, war es wirklich so, dass du nur spielen wolltest. Du wolltest spielen, wolltest Musik machen. Du wolltest dich ausdrücken. Es hatte eine gesellschaftliche und politische Dimension. Das fällt heute zu einem sehr großen Teil weg. Das ist rein "Las Vegas". Es ist Show, es ist nicht wirkliches Gefühl. Und dann daran leidet die Musik heute auch oft. Diese ganzen Top Ten-Produktionen. Es ist für mich kalt, es hat keine Seele.

Viele wissen natürlich, dass sie auch in Hamburg gelebt haben und eine enge Verbindung zu dieser Musikszene haben. Man spricht, immer von dieser Villa Kunterbunt. Diese große Villa, in der Udo Lindenberg und Otto Waalkes gewohnt haben. Sie waren zum Teil auch da, richtig gewohnt haben Sie da aber nie?

Müller-Westernhagen: Ich kam ja nach Hamburg mit einer Reisetasche, mit einem Second-Hand Pelzmantel und mit Plateau-Schuhsohlen. Durch die Verbindung zu den Leuten, die dort wohnten, schlief ich da immer, wenn ich keinen Schlafplatz hatte. Ein Zimmer war meistens frei. Wenn es nicht frei war, habe ich unterm Dach geschlafen, wo so alte Zeitschriften lagen und eine Matratze. Da habe ich mich hingelegt. Aber ich hatte eine enge Verbindung zu Otto und Udo sowieso. Wir hatten uns alle schon kennengelernt, bevor unsere große Popularität kam, durch eine Fernsehshow, die für uns konzipiert worden war. Die endete aber damit, dass Udo und ich ausstiegen. Dann war es die Otto-Show. Aber die Verbindung ist immer geblieben. Ich mag sie beide sehr, sehr gerne. Und Udo ist natürlich irgendwo in der Rockmusik und in den deutschen Texten der Gottvater.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 20.05.2022 | 13:00 Uhr

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