Imagefoto der Gezeitenkonzerte: Junge Musiker vor dem Wattenmeer © Karlheinz Kraemer Foto: Karlheinz Kraemer

Zehn Jahre Gezeitenkonzerte: Kammermusik und mehr

Stand: 03.06.2022 21:45 Uhr

Die Gezeitenkonzerte sind ein Festival für klassische Musik in Ostfriesland. 2012 ist es vom Kommunalverband Ostfriesische Landschaft gegründet worden - mit Matthias Kirschnereit als künstlerischem Leiter.

Sie sind in Ostfriesland mittlerweile eine Institution: die Gezeitenkonzerte. Etwa 30 Konzerte finden jährlich im Sommer in Klangräumen wie Kirchen, Burgen und Schlössern in der Region zwischen Dollart und Jadebusen statt. Neben klassischen Kammerkonzerten steht auch Jazz oder Barockmusik auf dem Programm.

Herr Kirschnereit, zehn Jahre Gezeitenkonzerte - das hat was! Endlich zweistellig, oder?

Matthias Kirschnereit: Zehn Jahre ist ganz wunderbar. Es ist noch jung und es ist frisch. Andererseits blickt man auf einen richtigen Lebensabschnitt zurück, auf ein Festival, das sich neu etabliert hat. Diese Entwicklung der letzten zehn Jahre mitzuverfolgen, ist wirklich gigantisch. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie toll sich die Gezeitenkonzerte etabliert haben und vor allem, wie wunderbar sie vom Publikum und von den Künstlerinnen und Künstlern angenommen wurden.

Wie ging es denn 2012 eigentlich los?

Kirschnereit: Das hat mich aus heiterem Himmel ereilt. Da war eine Mail vom Herbst 2011 von der "Ostfriesischen Landschaft", vom damaligen Kulturbeauftragten, ob ich Interesse hätte, in Ostfriesland ein Kammermusikfest zu leiten und neu zu gründen. Es war ein Traum, den ich schon seit vielen Jahren gehegt habe: ein eigenes Kammermusikfest. Ich habe immer schon nach günstigen und schönen Locations Ausschau gehalten - irgendwo am See, am Meer, im Wald, in den Bergen, auf jeden Fall naturverbunden, wo man mit Künstlerfreunden eine Woche verbringt. Alle bringen ihre Kinder mit und es wird geprobt. Dann gibt es am Wochenende drei, vier, fünf Konzerte - ein bisschen nach dem Vorbild von Lars Vogts "Spannungen"-Festival, bei dem ich ein paar Mal dabei sein durfte.

Matthias Kirschnereit © Giorgia Bertazzi Foto: Giorgia Bertazzi
Der Pianist Matthias Kirschnereit zählt zu den erfolgreichsten Pianisten seiner Generation und ist künstlerischer Leiter der Gezeitenkonzerte Ostfriesland.

Ich habe nicht lange gezögert. Am 16. Januar 2012 bin ich zur Vorstellung nach Ostfriesland, nach Aurich, gefahren, zur "Ostfriesischen Landschaft", und es waren einige Kandidaten in der engeren Wahl. Ich war der letzte dieser Kandidaten, die sich vorstellten, und ich bin da ganz frisch, natürlich vorbereitet, aber ohne jegliche Erwartungen reingegangen. Ich dachte, mein Leben ist so ausgefüllt, und ich habe wirklich genug zu tun. Wenn es klappt, ist es schön. Und wenn es nicht klappt, ist es auch nicht tragisch. Dann ergibt sich etwas anderes. Auf dem Rückweg nach Hamburg ereilte mich ein Telefonanruf auf dem Handy: "Herr Kirschnereit, wir würden uns freuen, wenn Sie das neue Festival leiten würden." Da habe ich erst einmal Gas gegeben und mir ein paar Tage Bedenkzeit ausbedungen. Dann habe ich letztendlich zugesagt und dann ging es los.

Das heißt, es ging doch recht rasch mit dem ersten Festival?

Kirschnereit: Das erste Festival sollte im Juni 2012 stattfinden. Das war kein leichter Schritt, weil es große Spannungen in Ostfriesland gab. Es gab dort schon ein Festival, Musikalischer Sommer in Ostfriesland, welches über Jahrzehnte hinweg mit der "Ostfriesischen Landschaft" zusammen gearbeitet hat. Sie fanden es nicht gut, dass ein neues Festival dort etabliert werden sollte. Die erste Zeit war voller Spannungen und es wurde prozessiert. Es gab viele unschöne Dinge, letztendlich hat sich aber doch die Idee der Gezeitenkonzerte etabliert. Wir wuchsen von Jahr zu Jahr und es hat sich im Jahr 2013 ein Freundeskreis gegründet. Dieser Freundeskreis zählt heute nahezu 800 Mitglieder. Das ist wirklich spektakulär. Wir hatten von Jahr zu Jahr Besucherrekorde zu vermelden. Das ist das Einzigartige bei den Gezeitenkonzerten: dass die Stars, die sonst die Podien der Welt beglücken und auf den ganz großen Festivals spielen, nach Ostfriesland kommen.

Ostfriesische Landschaft

  • Körperschaft des öffentlichen Rechts
  • Für Kultur, Wissenschaft und Bildung zuständig
  • Beispiele: Archäologische Denkmalpflege, Förderung der Regionalsprache, Unterstützung von Lehrer/innen und Schulen
  • Vermittlung zwischen Wissenschaft und Bevölkerung
  • Organisation der Gezeitenkonzerte, aber auch anderer Veranstaltungen: Lesungen, Kabarett, Theater, Kleinkunst
  • Veranstaltungszentrum seit 2009 ist das Landschaftshaus in Aurich

Ostfriesland hat etwas sehr Beschauliches und ich liebe die Landschaft dort. Wir spielen zumeist in wunderschönen alten Kirchen. Mir wurde gesagt, dass sich jedes Dörflein vor vielen Jahrhunderten als Zeichen der Unabhängigkeit und des Stolzes gegenüber der Obrigkeit eine eigene Kirche gebaut hat. In diesen Kirchen spielen wir zumeist umgeben von Kuhweiden oder schönen Aussichten. Die Landschaft ist natürlich relativ flach. Dort diese Stars zu erleben, ist etwas ganz Einzigartiges. Ich kenne die meisten persönlich. Es besteht ein herzlicher, menschlicher Bezug. Viele der Künstlerinnen und Künstler suchen den direkten Kontakt zum Publikum. Wenn man durchs Kirchenschiff vorne in den Altarraum aufs Podium schreitet, ist eine physische Nähe gegeben. Auch in der Pause oder nach dem Konzert gibt es oftmals Gelegenheiten zur Begegnung: Die Welt zu Gast in Ostfriesland. Das ist eine ganz, ganz wichtige Säule. Auf der anderen Seite setzen wir uns sehr für den Nachwuchs ein. Ich sagte gerade, dass die Landschaft sehr flach ist. Deswegen heißen die Nachwuchs-Stars in Ostfriesland Gipfelstürmer. Das sind die Gipfelstürmer-Konzerte, die für Furore sorgen.

Natürlich steht die sogenannte klassische Kammermusik im Fokus: Klaviertrio, Streichquartett, Duo-Abende, Klavierabende bis hin zu Orchesterkonzerten. In diesem Jahr ist etwas ganz Besonderes, dass wir ein Programm haben, in dem Filmmusik erklingt, die meistens irgendwelchen Bösewichtern zugeordnet ist - Dracula oder Frankenstein. James Bond ist natürlich kein Bösewicht, sondern der Retter der Welt. Daniel Craigs Synchronstimme Dietmar Wunder kommt und tritt zusammen mit dem Metamorphosen Ensemble auf - ein ganz originelles Programm. Wir haben zum ersten Mal die NDR Bigband dabei. Nach diesen fürchterlichen Corona-Jahren und jetzt mit diesem entsetzlichen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, was auf alles wie ein schwerer Schatten und eine schwere Bedrückung wirkt, wollen wir die Kraft des Trostes, der Freude, der Zuversicht und des gemeinsamen Erlebens in diesem Jahr besonders feiern.

Ich habe den Eindruck, dass bei den Konzerten eine Dankbarkeit da ist, dass man Krieg und Pandemie etwas entgegensetzen kann durch die Musik und durch die Möglichkeit der Begegnung. Es gibt andere Festivals, wo es ganz ähnlich ist, wo strahlende Künstlerinnen- und Künstlerpersönlichkeiten gerne aufs Land kommen. Was ist das Besondere der Gezeitenkonzerte?

Kirschnereit: Wir haben das Rad der Musik und das Rad der Festivals nicht neu erfunden - vielleicht hier und da neue Aspekte hinzugefügt. Wesentlich sind die Vielfalt, dieser besonderen Konzertorte und dass man dort einen Grigory Sokolov, Rudolf Buchbinder, Christian Tetzlaff oder Daniel Hope nicht auf einer Riesenbühne erlebt, sondern in relativ kleinem Rahmen. Das ist schon wirklich etwas ganz Besonderes. Dann gibt es einige einzigartige Formate, die ihresgleichen suchen, beispielsweise die "Langen Nächte der Gipfelstürmer", wo ich Nachwuchs-Stars aller Genres bis hin zum Schauspiel einlade. Sie sind teilweise noch im Studium oder haben das Studium gerade beendet. Das ist ein sehr lockeres Format, von mir moderiert, und am Abend läuft eine Jam-Session. Das ist ein Programmteil, dem alle mit großem Herzklopfen entgegenfiebern und wo es kein gedrucktes Programm gibt, wo sie selbst unter dem Motto "latente Talente" verrückte Sachen machen - rückwärts auf dem Klavier spielen und die Hände falsch herum. Oder wo ein Geiger plötzlich Cello spielt oder wo ein Pianist plötzlich singt. Das ist wirklich ein lustvolles Format, was ich von nirgendwo anders her kenne.

Dann ist etwas ganz Besonderes, dass unsere Preisgestaltung äußerst sozial ist. Das teuerste Ticket liegt unter 50 Euro. Wir haben nicht kontingentierte Tickets für Schüler und Studenten für 5,50 Euro. Das heißt, wer das Eröffnungskonzert mit der NDR Radiophilharmonie in der St.-Magnus-Kirche in Esens hören will oder Maurice Steger mit seinem Schweizer Barockensemble: Da können 30 Leute, wenn sie Lust haben und noch Tickets kriegen, für 5,50 Euro zuhören. Sagen Sie mir mal, ob das bei den Salzburger Festspielen, dem verehrten Schleswig-Holstein Musik Festival oder dem Rheingau-Festival möglich ist, dass man zum Beispiel den Sokolov in der teuersten Kategorie für 44 Euro hört. Ich glaube, das würde schon mehr kosten - Hand aufs Herz.

Wie finanziert man das?

Kirschnereit: Wir haben einen sehr, sehr hohen Anteil von Ticketverkäufen. In den vergangenen Jahren waren es bis zu 60 Prozent, weil wir sehr gut verkauft sind und immer nahezu ausverkauft. Ich weiß nicht, ob das in diesem Jahr auch so sein wird, weil man merkt, dass ein gewisser Dornröschenschlaf allerorten noch stattfindet. Einige sind völlig euphorisch und kaufen im Vorverkauf für 15, 20 Konzerte Tickets, wo der ganze Sommer-Etat für die Gezeitenkonzerte draufgeht. Andere sind nach wie vor sehr zurückhaltend. Bei den Open-Air-Konzerten, die wir anbieten - Ulrich Tukur beispielsweise oder unser Festkonzert in der Freilichtbühne Wiesmoor mit einem sinfonischen Programm aus Amerika mit Dvořáks Neunter Sinfonie, "Ein Amerikaner in Paris" und "West Side Story" von Bernstein - da kann man es sicherlich ohne Bedenken, wenn man immer noch Angst vor Covid-19 haben sollte, genießen.

Wir sind wahnsinnig dankbar. Unser Freundeskreis mit nahezu 800 Mitgliedern ist mittlerweile zu einem Hauptsponsor geworden. Die Identifikation der regionalen Wirtschaft mit unserem Festival als exquisites Kulturangebot für den Sommer, was die Lebensqualität aller Menschen dort erheblich steigert, zeigt sich darin, dass wir sehr viele regionale Förderer haben. Das ist ganz toll. Ich bezeichne die Gezeitenkonzerte als eine Bürgerbewegung, getragen von der Basis. Es ist nicht so, dass ein Hauptsponsor XY einen Wahnsinnsbetrag reinballert. Wenn ich die Etats von anderen Festivals höre, wird mir immer ganz schummrig im Magen, wie viel Geld da ausgegeben wird. Bei uns ist es so, dass die Künstlerinnen und Künstler sehr gerne und dankenswerterweise zu Freundschaftspreisen kommen. Das wissen auch alle. Ich sage immer: Alle sollen mit Freude nach Ostfriesland kommen und noch mit viel erhobenerem Haupt Ostfriesland wieder verlassen - bis zum nächsten Mal. Das ist eine richtige Familie, die sich da gebildet hat.

An "Gipfelstürmern" sind Sie ganz nah dran - an der Hochschule in Rostock bilden Sie selbst aus. Wie entstehen diese Konstellationen?

Kirschnereit: Ich kenne natürlich sehr viele junge Musikerinnen und Musiker von dem Kammermusikkurs der "Jeunesses Musicales" in Weikersheim, von Klavierkursen oder von der Hochschule für Musik und Theater in Rostock, die meistens auch die Schauspieler stellt. Ansonsten arbeite ich sehr eng mit der Mozart-Gesellschaft Dortmund zusammen, auch mit der "Bundesauswahl Konzerte Junger Künstler" vom Deutschen Musikrat. Oder ich höre zufälligerweise im Radio irgendetwas Tolles oder bekomme eine Empfehlung von Freunden. Es ist eine bunte Mischung. Es sind meistens etwa 12 bis 18 junge Musikerinnen und Musiker, die sich dort treffen. Da wird ein Streichquartett von einer Klarinettensonate abgelöst, dann kommt von Charles Bukowski eine relativ obszöne Szene. Dann gibt es ein Brahms-Intermezzo. Das Konzept lebt sehr von den Kontrasten, beispielsweise hat das Vision String Quartet 2014 für Furore gesorgt, die jetzt eines der angesagtesten Nachwuchs-Quartette sind. 2017 war Sophie Dervaux da, heute Solofagottistin der Wiener Philharmoniker. Sie kam über eine Studentin von mir. Die haben Trio gespielt mit dem Solo-Hornisten vom Concertgebouw-Orchester - das war spektakulär. Die spielen dort auch zum Anfassen nahe zum Beispiel eine hinreißende Saint-Saens-Fagott-Sonate. Elisabeth Brauß war da oder Annika Treutler, Lilit Grigoryan - um nur einige Pianisten zu nennen. Das ist eine ganz große Freude und die kommen immer gerne wieder und freuen sich, wenn sie einen eigenen Abend kriegen.

Wie hat das Festival die Pandemiezeit überstanden?

Kirschnereit: Zunächst muss ich sagen, dass es bitter war. Im Nachhinein denke ich, wir haben das Beste daraus gemacht. Wir haben im Jahr 2020 das Live-Festival leider komplett absagen müssen und uns auf einige Streaming-Konzerte konzentriert. Das waren Konzerte, die ohnehin vom Deutschlandfunk Kultur beziehungsweise vom Norddeutschen Rundfunk hätten mitgeschnitten werden sollen. Die haben wir gleichzeitig mit einer professionellen Videotechnik aufgenommen und ins Netz gestellt. Wir haben etwas ganz Verrücktes gemacht: Wir haben Mimi und Josy gestreamt. Mimi und Josy sind die Gewinnerinnen von "The Voice Kids", diejenigen von den Hörerinnen und Hörern, die Kinder im entsprechenden Alter haben, wissen, wovon ich spreche.

Sie sind mittlerweile auch international toll unterwegs und das Stück, mit dem sie "The Voice Kids" gewonnen hatten, hatte innerhalb kürzester Zeit - ich weiß nicht - 50 oder 70 Millionen Klicks bei "YouTube" - ich bin nicht auf dem aktuellen Stand. Das sind Dimensionen, von denen ein sogenannter klassischer Künstler nur träumen kann. Das sind zwei großartige junge Damen aus Augsburg, was dem Gezeiten-Stream einen enormen Schub gegeben hat. Wir hatten innerhalb kürzester Zeit über eine Million Streams; und nicht nur, dass aus Brasilien, Mexiko oder Pinneberg Mimi und Josy geguckt wurden - nein. Die haben sich dann auch das Beethoven-Quintett oder mit Sharon Kam das Mozart-Quintett angeschaut. Das hatte eine wunderbare Synergie.

Wenn wir auf das Eröffnungskonzert am 4. Juni schauen, warum sollten alle nach Esens pilgern?

Kirschnereit: Esens hat eine ganz wunderbare Kirche. Es ist ein Mysterium für mich, warum auf dem platten Land, in einem Dorf von ein paar hundert Seelen eine wunderschöne alte Kirche, die St.-Magnus-Kirche steht, mit einer Kapazität für über tausend Menschen. Ich bin wahnsinnig glücklich und auch ein wenig stolz, dass wir zum zweiten Mal die NDR Radiophilharmonie zu Gast haben. Vor vier Jahren dachte ich, das kann ja nicht sein: Ein Festival in Niedersachsen, da muss das erste Orchester des Landes doch mal kommen. Und ich habe mit dem Intendanten lange gerungen, bis wir für 2018 schließlich ein Termin hatten. Dort durfte ich dann zusammen mit Andrew Manze das vierte Beethoven-Konzert spielen.

Und jetzt gibt es wirklich ein Bonbon-Programm, höchst geistreich und herzerwärmend: Mozarts Zauberflöten-Ouvertüre und das Jeunehomme-Konzert, ein absolutes Jugendwerk, das Mozart mit 21 Jahren für Mademoiselle Jenamy geschrieben hat, eine großartige französische Pianistin. Alfred Brendel bezeichnet dieses Konzert schlicht als Weltwunder, und das ist auch nicht zu fassen, was da in diesem jungen Genie, in diesem Jahrtausend-Genie vorgeht; dazu die siebte Sinfonie von Antonín Dvořák unter der Leitung der jungen, aufstrebenden Dirigentin Erina Yashima. Ich freue mich sehr darauf. Wir haben uns vorhin das erste Mal im Künstlerzimmer getroffen, und ich kann nur sagen: Erina Yashima ist äußerst sympathisch und offen für Ideen. Das wird bestimmt ein sehr frisches Musizieren.

Das Motto der Gezeitenkonzerte in diesem Jahr heißt Horizonte. Warum, gibt es einen besonderen Grund?

Kirschnereit: Ich erzählte ja eingangs von der zunächst scheinbar zufälligen Geschichte, wie ich zur Künstlerischen Leitung dieses Festivals kam. In Hamburg habe ich dann nach einem Namen für das Festival gesucht. Und ich dachte, es muss irgendwas sein, was mit der Region konnotiert ist, was etwas Unverwechselbares hat, was etwas ist, womit man sich identifiziert - und dachte an "Horizonte", weil Ostfriesland so flach ist und man so weit schauen kann, so man denn auf einen Baum geklettert. Parallel keimte der Gedanke "Gezeiten". Damit setzt man sich ganz klar von den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern ab, die ja an der Ostsee stattfinden. Das Schleswig-Holstein-Festival hat sein eigenes Terrain an der Nordsee. Und Gezeitenkonzerte, das wäre dann ganz klar mit der Nordsee verbunden und auch mit Ebbe und Flut und allem, was damit zusammenhängt.

Matthias Kirschnereit

  • Ist 2022 60 Jahre alt geworden
  • Wurde in Westfalen geboren, wuchs in der Wüste Namibias auf
  • Studierte in Detmold, hat zahlreiche Wettbewerbe gewonnen
  • Ist seit 1997 Professor für Klavier in Rostock
  • Hat fast vierzig CDs aufgenommen
  • Liebt Kammermusik und gehobene Unterhaltung

Ich habe das tagelang im Herzen bewegt, habe Freunde gefragt, wie findet ihr Horizont-Konzerte? Ja, gut. Und wie findet ihr Gezeitenkonzerte: Vielleicht besser. Und schließlich ging das Pendel dann Richtung Gezeitenkonzerte. Das mit dem Z und Konzerte und so weiter, diese Wortspiele, das gefiel mir sehr gut. "Horizonte" habe ich jetzt wieder herausgekramt, weil das immer noch in mir schlummerte, diese schöne Mehrfachbedeutung: Man schaut weit, man öffnet den Horizont, man sucht neue Horizonte, man erweitert den Horizont. Das hat etwas mit Selbstreflektion, mit Introversion auch zu tun, aber auch man geht nach außen; und das verbunden mit der wunderschönen flachen Landschaft. Das passte einfach. Ich bin jetzt nicht so ein Hardcore-Dramaturg, der sich jetzt am Schreibtisch ganz tolle musikwissenschaftliche Mottos ausdenkt. Der Künstler darf jetzt nur dieses Brahms-Intermezzo spielen, denn das op. 118/3 würde mit dem Motto nicht mehr kongruent gehen und so weiter, das liegt mir fern. Ich möchte ein Motto, mit dem man sich identifiziert, mit dem man alles umklammern kann. Und ob das jetzt Rudolf Buchbinder ist oder Daniel Müller-Schott oder Christian Tetzlaff – alle sind sozusagen in den Horizonten mit inbegriffen.

Ich versuche immer, mit den Künstlern, Freundinnen und Freunden einen guten Konsens zu finden. Ich sage ihnen: Leute, wir können einfach nicht die Gagen der großen Festivals zahlen. Aber wir tragen euch auf Händen, und ihr werdet es genießen. Und alle, die schon mal da waren, können das auch bestätigen. Christian Tetzlaff ist bestimmt jetzt zum vierten oder fünften Mal da, Daniel Hope auch zum vierten oder fünften Mal, Daniel Müller-Schott ich glaube zum dritten Mal und so weiter und so weiter. Und Grigory Sokolov war dreimal da. Alle kommen wirklich gerne wieder, und ich koche sagen wir mal, vor, aber letztendlich die Honorarverhandlungen macht der Projektleiter Raul Philipp Schmidt, der für das ganze organisatorische zuständig ist. Und manchmal gibt es dann auch die Fälle, wo man dann auch sagt, wir können uns das jetzt einfach nicht leisten.

Wie groß ist das Team?

Kirschnereit: Das Team ist sehr überschaubar. Ich glaube, das sind vier feste Mitglieder, wobei ich nicht weiß, ob einige dabei Teilzeit arbeiten. Das entzieht sich jetzt gerade meiner Kenntnis. Und im Sommer kommen etliche Ehrenamtliche dazu. Wir kriegen dankenswerterweise von Volkswagen Emden immer Fahrzeuge gestellt und haben zwei ehemalige Polizisten ganz, ganz herrlich, die als Fahrer fungieren und auch ganz genau wissen, wo die Blitzer stehen. Das läuft sehr rund. Und es ist auch hier so eine Familie, wo man sich freut, gemeinsam Menschen glücklich machen zu können.

Gibt es etwas Besonderes, eine Überraschung für das Jubiläum?

Kirschnereit: Wir haben tatsächlich dieses Festkonzert, was ganz bewusst vom Freundeskreis gesponsert wird, angesetzt. Und zwar ist es am 24. Juni in der Freilichtbühne Wiesmoor mit der Nordwestdeutschen Philharmonie, Julia Bauer und Nikolai Schukoff als Solisten, als Gesangssolisten, und Frank Beermann dirigiert mit dem amerikanischen Programm. Und wenn es richtig toll wird, dann haben wir 3.000 Menschen zu Gast in der Freilichtbühne. Wahrscheinlich kommen nicht so viele, aber das ist so ein spezielles Bonbon, wo man wirklich mit Nachbarn zum Picknick gehen kann, mit den Kindern, die dann von mir aus auch da herumtoben, wenn sie die "West Side Story" hören, und wo man Onkels und Tanten einladen kann. Es wird also ein richtiges Familienfest, da freuen sich alle sehr darauf.

Gibt es eigentlich dieses Jahr auch ein Komponistenporträt?

Kirschnereit: Selbstverständlich: Sven Daigger, ein junger Nachwuchskomponist, übrigens auch ein ehemaliger Studierender aus Rostock. Ich hatte in Rostock vor drei Jahren seine Oper gehört, die dort uraufgeführt wurde und war hin und weg und sagte Sven, Du musst zu den Gezeitenkonzerten kommen.

Was ist das für eine Klangwelt?

Kirschnereit: Also, die Instrumente werden konventionell gespielt. Es wird auch konventionell gesungen und gesprochen, da ist wenig Geräuschhaftes, eine ganz eigene Klangsprache, aber natürlich nicht in keiner Weise tonal, sehr innovativ, sehr besonders. Ich würde jetzt vielleicht Wolfgang Rihm nennen. Aber Wolfgang Rihm schreibt ja auch mal so und so … Also hingehen und hören!

Das Gespräch führte Raliza Nikolov.

Zehn Jahre Gezeitenkonzerte: Kammermusik und mehr

Matthias Kirschnereit ist seit Beginn künstlerischer Leiter des Festivals. Im Gespräch blickt er zurück und in die Zukunft.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 04.06.2022 | 15:20 Uhr

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