Berlinale-Kommentar: Zu wenig Zeit, wenig Querschläger
In Berlin sind am Abend die Preise verliehen worden. Den Goldenen Bären erhielt das spanische Drama "Alcarràs" von Regisseurin Carla Simón. Ein Kommentar von Katja Nicodemus über die 72. Berlinale.
Eine große Familie, eine Obstplantage in Katalonien, der heiße flirrende Sommer und eine ungewisse Zukunft - so könnte man den Gewinnerfilm der diesjährigen Berlinale umschreiben. In "Alcarràs" schildert die fünfunddreißigjährige Spanierin Carla Simón eine aus mehreren Generationen bestehende Familie, die in Begriff ist, ihre Obstplantage zu verlieren, denn auf dem Land sollen Solar-Panels errichtet werden.
"Alcarràs": Umbrüche ländlicher Lebensformen
"Alcarràs" - so heißt auch eine Stadt im westlichen Hinterland von Barcelona - ist einer von mehreren Filmen im Wettbewerb der 72. Berlinale, die sich mit ländlichen Lebensformen und ihren Umbrüchen befassen. Die generationellen Konflikte innerhalb der Familie sind ebenso Thema wie die körperlich anstrengende Ernte mithilfe von migrantischen Schwarzarbeitern, die Dumpingpreise für Obst innerhalb der EU sowie die Existenznöte der katalanischen Bauern. Höchstwahrscheinlich war es diese in die Gegenwart ragende Themenvielfalt, die die Jury unter Vorsitz des US-amerikanischen Regisseurs M. Night Shyamalan zu ihrer Entscheidung bewog.
Großer Preis der Jury an Koreaner Hong Sang-soo
Den zweitwichtigsten Preis der Berlinale, den Großen Preis der Jury, gewann ein Regisseur, der zum siebten Mal nach Berlin eingeladen wurde: Der Koreaner Hong Sang-soo. In "The Novelist’s Film" erzählt er von einer Schriftstellerin, die sich von einem Reigen der Begegnungen und Zufallsbekanntschaften dahintragen lässt - und selbst einen Film drehen möchte. Damit wurde ein Kino der lebendigen, fein ziselierten Dialoge ausgezeichnet, ein Kino, das dem Leben beim Dahinfließen zusieht, und dabei Spannungen und feine Risse in Beziehungen und Selbstbildern sichtbar macht. Es ist bedauerlich, dass der Film, der die beeindruckendsten Bilder nach Berlin brachte, nicht den Goldenen Bären gewonnen hat.
"Robe of Gems" über mexikanische Drogenkartelle
Zugleich ist es ein Glück, dass "Robe of Gems" von der mexikanischen Regisseurin Natalia López Gallardo immerhin die drittwichtigste Auszeichnung, den Preis der Jury, mit nach Hause nehmen kann. In lichten, spannungsvollen Tableaus erzählt die Regisseurin von drei Frauen in der mexikanischen Provinz, die auf unterschiedliche Weise mit der Gewalt der Drogenkartelle konfrontiert werden. Die Größe des Films besteht darin, diese Gewalt nicht blutig auszustellen oder gar auszubeuten, sondern als Atmosphäre der Verunsicherung, der Bedrohung und der Angst in die Bilder einfließen zu lassen.
Zwei Silberne Bären für Dresen-Film über Rabiye Kurnaz

Gleich zwei Preise und damit zwei Silberne Bären verlieh die Jury einem deutschen Wettbewerbsbeitrag, dem Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush", in dem der Regisseur Andreas Dresen erzählt, wie die Deutschtürkin Rabiye Kurnaz um ihren Sohn kämpfte, der fünf Jahre lang ohne Gerichtsverfahren in Guantánamo festgehalten wurde. Ausgezeichnet wurden die Drehbuchautorin Laila Stieler und die Hauptdarstellerin, die Comedienne und Schauspielerin Meltem Kaptan. Kaptan verleiht ihrer kämpferischen Mutterfigur eine Mischung aus Schwung, Witz und Herzenswärme, unter der immer wieder die Verzweiflung durchscheint.
Was bleibt von dieser Berlinale, deren Bärenwettbewerb wegen der Pandemie auf sieben Tage verkürzt wurde? Was bleibt von der dritten Festivalausgabe des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian? Zum einen die Erkenntnis, dass auch die Berlinale eine neue, alte Normalität braucht: Der geschrumpfte Zeitraum des Wettbewerbs ist auch ein gefühlt geschrumpfter Zeitraum der Gesamtberlinale, was diesem Festival mit seinen in diesem Jahr 260 Filmen nicht gerecht wird. Zum anderen: Es war ein Wettbewerb mit nur wenigen Querschlägern, provozierenden Außenseitern, interessanten Zumutungen. Umso wichtiger ist es, dass die Journalistinnen und Journalisten im kommenden Jahr wieder mehr Zeit bekommen, um auch in den anderen Sektionen der Berlinale, jenseits des Wettbewerbs, auf Entdeckungsreise zu gehen - für das Publikum.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
