Richard David Precht und Harald Welzer © picture alliance/dpa/zb Foto: Horst Galuschka/Kirsten Nijhof

"Die vierte Gewalt": Precht und Welzer über "Meinungsmache der Leitmedien"

Stand: 14.10.2022 23:00 Uhr

Der TV-bekannte Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer veröffentlichen erstmals zusammen ein Buch - und kritisieren darin publikumswirksam die angebliche "Meinungsmache der Leitmedien".

von Jürgen Deppe

Die Leitmedien berichten nicht mehr über Politik, sie machen sie. Die Leitmedien bauschen auf, was in Social Media diskutiert wird und blenden aus, was "Mehrheitsmeinung" ist. Und: Die Macher der Leitmedien orientieren sich nicht an der Realität, sondern nur an der Meinung ihrer Kolleginnen und Kollegen in anderen Leitmedien. Was sich passagenweise liest wie ein Querdenker-Pamphlet, sind die Zentralthesen der beiden Leitmedien-Stars Richard David Precht und Harald Welzer.

Richard David Precht und Harald Welzer © picture alliance/dpa/zb Foto: Horst Galuschka/Kirsten Nijhof
AUDIO: Das Gespräch: Richard David Precht und Harald Welzer über "Die vierte Gewalt" (26 Min)

"Die vierte Gewalt": Verkürzung auf die plausibelste Auffassung

"Man orientiert sich an der wahrscheinlichsten, plausibelsten Auffassung, die alle teilen können. Und wenn das erst einmal losgegangen ist, dann einigt man sich darauf. Und dann passiert es sehr schnell, dass diejenigen, die die Meinung nicht teilen, als Abweichler interpretiert werden und man das abwehren muss", diagnostiziert Harald Welzer, der - das wird im Buch nicht erwähnt - als Unterzeichner des ersten Offenen Briefes gegen Rüstungslieferungen an die Ukraine vor Monaten und für einen anschließenden Talkshow-Auftritt bei Anne Will heftig kritisiert wurde.

Fernsehphilosoph Richard David Precht pflichtet Welzer in der Darstellung der seiner Meinung nach offenbar etwas dümmlichen Politik-Journalisten bei: "Das merken unsere Journalisten gar nicht mehr, wenn sie das schreiben. Die schreiben das einfach so. Da hat man sich drauf geeinigt. Das drückt man so verkürzt so aus. Aber vielleicht repräsentiert die Verkürzung gar nicht die Tatsachen."

"Journalismus muss die Repräsentationslücke kompensieren"

Ums Repräsentieren geht es den beiden. Und zwar - auch wenn sie es so nicht nennen - das Repräsentieren der Meinung des Volkes. Das sei in Medien wie "FAZ", "Süddeutsche Zeitung" und "Welt", wie "Spiegel", "Zeit" und "Stern", wie ARD und ZDF nicht genügend gegeben. Und obwohl von allen frei gewählt - auch nicht in Regierung und Parlament. "Die Repräsentationslücke, die gesellschaftlich existiert, die muss eigentlich durch einen funktionierenden Journalismus kompensiert werden", meint Harald Welzer. "Dafür sind die da. Also auch die sichtbar zu machen, die sich aus eigener Kraft nicht sichtbar machen können. Das ist die Integrationsfunktion. Und durch die gegenwärtige Medienlandschaft wird diese Integrationsfunktion nicht erfüllt."

Da sollten sich die Leitmedien - so die Empfehlung - doch lieber nicht nur der Größen in der Politik, sondern mal der Ehrenamtlichen und Unabhängigen im Lande annehmen, die sich tagtäglich für die Gesellschaft engagieren: Futurzwei zum Beispiel. Dass Futurzwei die NGO ist, die Harald Welzer selbst mitgegründet hat und deren Mitarbeiter er jahrelang war, wird mit keinem Wort erwähnt. Bemerkenswert!

Richard David Precht und Harald Welzer: Es geht um den Erhalt der Demokratie

Dass Leitmedien wiederum Direktmedien wie Twitter oder TikTok, YouTube oder Instagram im Blick haben, um zu sehen, was die ungebremsten User umtreibt, halten weder Philosoph noch Soziologe für gerechtfertigt. Da ginge es doch in erster Linie um steile Thesen oder blanken Moralismus. Wobei sie den auch in den Leitmedien ausmachen: "Es wird unglaublich viel Moral darauf verwendet zu zeigen, dass man gerade die richtige, gute Position hat, und alle anderen falsch liegen oder sogar problematische Charaktere haben", sagt Richard David Precht. "Und das ist ein Mechanismus, den wir für bedenklich halten. Denn die moralische Rigorosität, die mit der Mehrheitsmeinung im Journalismus einhergeht, die tut sicher dem sozialen Kitt in unserem Land nicht gut."

Und darauf bestehen Precht und Welzer - um nichts anderes ginge es ihnen: um eine ausgewogene Öffentlichkeit und den Erhalt der Demokratie. Dass ihre steilen Thesen dazu Applaus von ungewollter Seite bekommen könnten, befürchten sie nicht. Schwurbler würden ihr Buch nach wenigen Seiten tief enttäuscht aus der Hand legen. In den gescholtenen Leitmedien sorgt das Buch für Erregung.

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Die vierte Gewalt - Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist

Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
S. FISCHER
Veröffentlichungsdatum:
28. September 2022
Bestellnummer:
978-3-10-397507-9
Preis:
22 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 25.09.2022 | 13:00 Uhr

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