Volker Weidermann: "Brennendes Licht" (Cover) © Aufbau

Volker Weidermanns Roman über Anna Seghers

Stand: 29.09.2020 12:02 Uhr

von Matthias Schümann

 

Vor 120 Jahren wurde sie geboren: Netty Reiling, verheiratete Radvanyi, die unter ihrem Künstlernamen Anna Seghers berühmt wurde. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Bücher der 1983 verstorbenen Autorin keine große Rolle gespielt, aber in jüngster Zeit scheint sich das zu ändern.

Die Stadt Frankfurt am Main widmete ihr 2018 ein Lesefest, im selben Jahr kam Christian Petzolds Verfilmung ihres Romans "Transit" in die Kinos. Jetzt hat auch noch einer der bekanntesten deutschen Literaturkritiker ein Buch über die Autorin geschrieben: Volker Weidermann. "Brennendes Licht", so der Titel, beschäftigt sich mit der Zeit, die Anna Seghers im Exil in Mexiko verbrachte. 

Nach einem Autounfall liegt Anna Seghers im Koma

Ausruhen, ausruhen. Vielleicht für immer. Hier im Licht. Ist das nicht angenehm? Nicht mehr kämpfen, nicht mehr diese Berge hinauf, immer wieder diese Berge. Still sein. Warten. Liegen. Vielleicht kommt die Welt ja zu ihr. Ganz von allein. Vielleicht ist alles ein Missverständnis. Vielleicht ist das Leben in Wahrheit gar kein Kampf. Und alles, was geschehen soll, geschieht. Sie kann hier einfach nur liegen. Und schauen. Und warten. Vertrauen. Das wäre ein Traum. Der Welt vertrauen. Vielleicht wird einfach alles gut, ganz ohne ihr Zutun, ohne ihren Kampf. Leseprobe

Es ist nicht die Sonne Mexikos, die Anna Seghers in diesen geradezu ungeschützten Zustand versetzt hat. Sondern ein schwerer Verkehrsunfall. An einem dunklen und regnerischen Juniabend im Jahr 1943 wird die Schriftstellerin angefahren. Tagelang liegt sie im Koma. In Volker Weidermanns Buch "Brennendes Licht" wirkt der Autounfall wie eine fast schon symbolhafte Zäsur, die Anna Seghers' Leben und ihr Werk in ein Vorher und ein Nachher teilt.

Vorher, das war vor allem die Flucht aus Deutschland. 1941 kommt Anna Seghers mit Mann und zwei Kindern in Mexiko an. Vorher - das ist auch der Welterfolg ihres Romans "Das siebte Kreuz", der 1942 in den USA erscheint. In Mexiko beginnt der wohl wichtigste Lebensabschnitt in der Biografie Anna Seghers', deshalb hat Volker Weidermann sich auf diese Jahre beschränkt.

Im Exil entsteht ein neues Freiheitsgefühl

Weidermann sagt: "Die Freiheit, die sie in Mexiko hatte - obwohl sie auch dort unter Funktionären und Genossinnen und Genossen lebte, aber man war doch weit weg von Moskau, weit weg von Berlin, weit weg von der Heimat, und sie hat dort wirklich eine ganz neue innere Freiheit gefunden und diese neue Freiheit spürt man einigen der Bücher heute noch an."

Besonders, sagt Weidermann, gilt das für einen Text. Anna Seghers begann noch auf dem Krankenbett, ihn zu schreiben: "Der Ausflug der toten Mädchen". Kein Text über Mexiko, das nur ganz am Rande darin vorkommt. Eine Erzählerin erinnert sich an ihre Freundinnen, damals am Rhein, wo Anna Seghers in einer jüdischen Familie aufwuchs.

"Alles wäre möglich gewesen. So scheint die Versuchsanordnung zu sein an diesen Rheinauen in Mainz, wo sie sich an den Händen halten und für immer sich Treue schwören und doch so ganz unterschiedliche Wege einschlagen. Das ist ein so leichtes, schönes, offenes, ja öffnendes Buch, wie es Anna Seghers kein zweites Mal geschrieben hat", meint der Autor.

Dabei ist "Der Ausflug der toten Mädchen" kein leichter Text. Die Biografien der kindlichen Freundinnen enden furchtbar, im Konzentrationslager, beim Bombenangriff. Diesem Nebeneinander von Leichtigkeit und niederdrückenden Erinnerungen, den Intrigen der anderen Genossen im Exil, all dem spürt Weidermann nach.

Weidermann zeichnet ein sehr menschliches Bild von Anna Seghers

Er lässt kettenrauchend Egon Erwin Kisch auftreten oder den berühmten Maler Diego Rivera mit seiner Frau Frida Kahlo. Weidermann fügt Tagebucheinträge, Äußerungen aus Briefen und literarische Werke zu einer lockeren Erzählung zusammen, in der er Lücken durch Einfühlung füllt. Das macht das Buch an den Rändern vielleicht etwas unscharf, aber das Bild Anna Seghers‘ erscheint umso klarer. Verständlich wird dabei auch ihre Unruhe vor der Rückreise nach Europa 1947.

Der Autor erklärt: "Sie hatte ja darauf hingelebt, darauf hingeschrieben, darauf hingekämpft: den Sieg gegen den Faschismus. Den Sieg des Kommunismus. Über alle Zweifel hinweg. Nun war es so weit. Sie musste fahren. Sie wusste es ja. Nur noch einen Moment den Panzer prüfen. Nur noch einen Moment das Licht genießen. Die Terrasse inmitten der Stadt. Die Tauben. Die Freiheit. Die Entfernung vom Krieg, von all den Zerstörungen, all den Toten, all den Erinnerungen an die Menschen, die nun nicht mehr lebten. Noch einmal atmen. Mexiko. Ihr Ort der Zuflucht. Ihr Land der Wiedergeburt. Ihr neues Land."

Volker Weidermann entwirft auf gut 180 Seiten ein sehr menschliches Bild von Anna Seghers. Den akkuraten grauen Dutt der DDR-Literaturfunktionärin fegt er ihr vom Kopf und unter dem Staub ihres Spätwerks zieht er die Bücher hervor, die es bis heute wert sind, gelesen zu werden, ihre Welterfolge "Das siebte Kreuz" und "Transit". Vor allem erzählt Weidermann aber die Geschichte einer Ehefrau, Mutter und Autorin, die zwar ihre zweite Lebenshälfte der Politik und der Parteilinie widmete. Die aber mit dem Herzen nie so ganz zurückkehrte aus Mexiko.

Brennendes Licht

von Volker Weidermann
Seitenzahl:
168 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Aufbau
Bestellnummer:
978-3-351-03794-9
Preis:
18,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 30.09.2020 | 12:40 Uhr

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