Stand: 28.06.2019 15:00 Uhr

Aenne Biermann: Fotos der Neuen Sachlichkeit

von Juliane Bergmann

In den 20er-Jahren machte sich Aenne Biermann in Deutschland einen Namen als aufstrebende Fotografin. Ihre Arbeiten wurden ausgestellt und in Fotokunstmagazinen abgedruckt. Doch ihre Karriere endete, bevor sie richtig begann: Im Januar 1933, zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung, starb Aenne Biermann im Alter von 34 Jahren, wahrscheinlich an einem Leberleiden.

Weiße und schwarze Linien schlängeln sich ineinander, fließen oder wachsen. Eine Art Wurzel in der Mitte, die nach außen zerfasert. Es könnte sich um zwei Flüssigkeiten handeln, die vermischt wurden, etwa Milch in Kaffee. Oder die Luftansicht einer Gebirgslandschaft. Oder etwas Organisches. Innereien?

Fotos, die Rätsel aufgeben

Nichts von alldem. Aenne Biermann zeigt in dieser Aufnahme einen durchgeschnittenen Rotkrautkopf. Und hat den Betrachter herrlich aufs Glatteis geführt.

Ein schlichter, schnörkelloser Fotoband, kaum größer als DIN A5. Die Bilder sollten für sich sprechen, so der spontane, erste Eindruck. Und das tun sie. Sehr ähnlich muss das Original aus dem Jahr 1930 ausgesehen haben. Das einzige zu Lebzeiten erschienene Buch, das das Werk der jüdischen, in Deutschland aufgewachsenen, Avantgarde-Fotografin Aenne Biermann zeigt.

Nur wenige Biermann-Fotos wurden gerettet

Ihr Ehemann Herbert konnte nach ihrem Tod nur wenige Teile ihres Nachlasses ins Exil nach Palästina retten. Das umfangreiche Archiv mit Tausenden Negativen gilt größtenteils als verschollen. Immerhin blieben - mit diesem Buch - ein paar ihrer beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotografien im Stil der Neuen Sachlichkeit erhalten.

"Nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit in der man lebt." Das schreibt Egon Erwin Kisch Mitte der 20er-Jahre im Vorwort zu seinem Buch "Der rasende Reporter". Der Mann, der es als Journalist selbst nicht immer allzu genau genommen hat mit den Fakten, wusste aber - wie Aenne Biermann - um den Reiz des genauen Hinsehens.

Biermanns erste Fotos zeigen das Alltägliche

Zunächst richtet die Autodidaktin ihren Blick auf das, was sie alltäglich umgibt. Oft sind das ihre beiden Kinder. Auf einem Bild ist die Tochter zu sehen, etwa 10 Jahre alt. Sie schaut ins Leere, verwuschelt ihr dunkelbrauner Bob, einige Strähnen hängen vor den Augen. Der Ausschnitt lässt es nur erahnen: Sie scheint zu sitzen, ihr Kinn stützt sie auf der Hand ab, fest hält sie einen Füller. Sie überlegt, was sie gleich schreiben wird.

Rudolf Hundt, ein befreundeter Geologe, bittet Aenne Biermann, seine Kristall- und Steinsammlung abzulichten. Dabei entwickelt sie ihre fotografischen Fähigkeiten weiter, experimentiert mit dem Einsatz von Licht und rückt das Detail, das Gegenständliche in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten.

Experimente mit Licht und Schatten

Sie hat ihre Handschrift gefunden. Behutsam und bedacht fotografiert sie die gesteinsartige Schere eines Hummers, das fleischige Kerngehäuse einer Gurke, den sich elegant windenden Stengel eines Rhododendrons, den zusammengekniffenen Mund eines Schimpansen, der uns wortlos ein "Glotz-nicht-so" entgegnet. Natur und Getier zeigt Aenne Biermann in extremen Nahaufnahmen. Ganz kühn und für unser Auge ungewohnt. So losgelöst aus allem Kontext, dass wir zu rätseln beginnen.

Das Porträt einer Frau, strenger Blusenkragen, ernst und melancholisch ihr Blick in die Kamera. Sie trägt einen tief sitzenden Strohhut. Die gleißende Sonne scheint durchs löchrige Gewebe und hinterlässt ein Muster auf ihrem Gesicht. Schatten aus Dreiecken auf blasser Haut. Fast wie eine Tätowierung. Ein schräger Kontrast zu ihrer ansonsten so biederen Aufmachung. Sie steht mitten unter Leuten. Ihr Blick verrät: Gern wäre sie ganz woanders.

Menschen, Szenen, Dinge - in ihrer Fotografie gelingt Aenne Biermann ein wohldosiertes Spiel mit Andeutungen. Sie stupst uns auf Motive, die wir ohne sie vielleicht gar nicht wahrgenommen hätten, lässt uns hinschauen, lässt uns wundern.

"Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit" Egon Erwin Kisch

Der Kunstkritiker Franz Roh widmete der Künstlerin 1930 die Monografie "Aenne Biermann: 60 Fotos". Dieser Band ist nun als Reprint nochmals erschienen.

Aenne Biermann: 60 Fotos

Seitenzahl:
104 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Mit einem Essay von Hans-Michael Koetzle, Text deutsch, englisch, französisch, 17,4 x 25 cm, Broschur
Verlag:
Klinkhardt & Biermann / Hirmer Verlag
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 30.06.2019 | 17:40 Uhr

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