Constanze Spieß © Markus Farnung Foto: Markus Farnung
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AUDIO: Unwort des Jahres 2023: Was verbirgt sich hinter "Remigration"? (5 Min)

Unwort des Jahres 2023: Was verbirgt sich hinter "Remigration"?

Stand: 15.01.2024 15:33 Uhr

Das Unwort des Jahres 2023 lautet "Remigration". Eine beschönigende Tarnvokabel sei dieses Wort, sagt die Jury-Sprecherin Constanze Spieß. Die Jury prangert die Umdeutung eines Wortes aus der Migrationsforschung durch Rechtsextreme an.

Mehr als 2.300 Vorschläge waren 2023 bei der Jury an der Philipps Universität in Marburg eingegangen. Auf den Plätzen zwei und drei landeten die Begriffe "Sozialklimbim" und "Heizungs-Stasi".

Frau Spieß, was ist eigentlich mit "Remigration" genau gemeint?

Constanze Spieß: Der Ausdruck "Remigration" ist eigentlich vom lateinischen Verb "remigrare" abgeleitet - das heißt: "zurückwandern", "zurückkehren". "Remigration" heißt dann "Rückkehr", "Rückwanderung". Das Wort ist in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien und rechtsextremen Gruppierungen zu einem Euphemismus umgedeutet worden. Wichtig ist hier auch zu sagen, dass sich das schon an der Grammatik zeigt. "Remigrare" ist ein Handlungsverb, und Handlungsverben können eigentlich nur um Aktiv verwendet werden. Zu beobachten ist aber, dass auch Ausdrucksweisen fallen wie "XY wird remigriert" oder "XY muss remigriert werden". Ich kann aber nicht zurückgewandert oder zurückgekehrt werden. Hier findet eine Umfunktionalisierung der Grammatik statt, und das schlägt sich auch auf die Bedeutung nieder.

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Hessen, Marburg: Der Begriff "Remigration" wird auf einem Tablet präsentiert. © dpa Foto: Nadine Weigel

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"Remigration" ist also ein Euphemismus, ein beschönigendes, verschleierndes Wort. Welchen Zweck haben solche Euphemismen?

Spieß: Die Euphemismen haben den Zweck, die tatsächlichen Absichten zu verharmlosen, zu verschleiern, nicht bekannt zu geben. Und die tatsächlichen Absichten sind ja die massenhafte Abschiebung und Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte. Die Neue Rechte zielt ja mit dem Wortgebrauch darauf ab, in gewisser Weise kulturelle Hegemonie und ethnische Homogenität zu erlangen. Das, was mit der Verwendung des Wortes gefordert wird, verletzt die freiheitlichen und bürgerlichen Grundrechte von Menschen mit Migrationsgeschichte.

Ein Wort wie "Remigration", das ein umfunktioniertes Fremdwort ist und grammatikalisch auch nicht richtig genutzt wird, geht deutlich leichter von den Lippen als beispielsweise "Deportation". Da werden doch die Grenzen des Sagbaren verschoben, oder?

Spieß: Genau. Die Diskursgrenzen verschieben sich dadurch, das ist richtig. Das sickert in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, und dadurch verschiebt sich der migrationspolitische Diskurs in Richtung einer Normalisierung von rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen.

Es gibt ein berühmtes Buch von Victor Klemperer über die Sprache des Dritten Reiches, basierend auf seinen Tagebüchern, in denen er über Jahre versucht hat, die Mechanismen dieser entmenschlichenden Sprache zu beschreiben. Er beschreibt sehr konkret, was Superlative, pseudowissenschaftliche Begriffe oder auch Euphemismen bewirken sollten. Machen Sie ähnliche Beobachtungen bei der heutigen Rechten?

Spieß: Ja, das ist dort auch festzustellen. Der Bezug auf wissenschaftliches Vokabular ist besonders bei der Identitären Bewegung zentral - zum Beispiel der Ausdruck "Ethnopluralismus": "Pluralismus" ist im demokratischen Lager ein Hochwertwort, etwas Positives. Das wird aber dazu verwendet, um im Prinzip genau das Gegenteil damit zu sagen, indem daraus "Ethnopluralismus" gemacht wird. Das klingt erst einmal harmlos, positiv - und trotzdem ist damit etwas ganz anderes gemeint, nämlich das Nebeneinander-Bestehen möglichst homogener Volksidentitäten.

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Auf den Plätzen zwei und drei der Unwort-Liste sind "Sozialklimbim" und die "Heizungs-Stasi" gelandet. Was und wer ist das genau?

Spieß: Der Ausdruck "Sozialklimbim" wurde vor allem im Zuge der öffentlichen politischen Debatte um die Kindergrundsicherung verwendet. In sozialpolitischen Debatten steht das Wort vor allem für eine wieder häufiger zu beobachtende, klassistisch diskriminierende Rhetorik. Durch die Wortverwendung wird eine ganz spezifische Gruppe einkommens- und vermögensschwacher Personen herabgewürdigt, und es werden vor allem auch von Armut betroffene oder armutsgefährdete Kinder stigmatisiert. Menschen, die durch die sozialen Transferleistungen eigentlich ein Leben in Würde haben sollen, wird suggeriert, dass es sich dabei nur um unnützes Beiwerk oder sinnloses Getue handelt - das kommt durch das Wort "Klimbim" zustande. "Klimbim" kommt aus einer Zusammenbildung von "klingeln" und "bimmeln", bezeichnete vor allem "schönes Beiwerk" und wurde dann im Laufe der Zeit zu "Beiwerk", "zusätzliches Beiwerk", "Getue", "unnützes Beiwerk". In Verbindung mit "Sozialklimbim" erfährt es aber eine negative Bewertung.

Bei "Heizungs-Stasi" handelt es sich auch um ein zusammengesetztes Wort aus "Heizung" und "Stasi". "Stasi" ist eine Abkürzung für das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR. Dieses Wort wurde im Kontext als populistische Stimmungsmache gegen Klimaschutzmaßnahmen verwendet. Es ging gegen das Gebäudeenergiegesetz, und dieses wird als diktatorische Repression dargestellt. Der Ausdruck verstößt unseres Erachtens dadurch gegen das demokratische Prinzip, weil er das demokratisch Zustandekommen von Gesetzen verunglimpft oder in Frage stellt. Zusätzlich kann man auch sagen, dass dadurch auch die Opfer der Staatssicherheit in Misskredit gebracht, verhöhnt oder verharmlost werden.

Wie kommen Sie in Ihrer Jury auf die Unwörter? Werden Vorschläge eingereicht oder recherchieren Sie selbst?

Spieß: Es werden Vorschläge eingereicht. Jede Person kann Einreichungen schicken. Wir hatten im letzten Jahr 2.301 Einsendungen zu insgesamt 710 verschiedenen Ausdrücken, und davon waren 110 tatsächlich Unwörter, die unseren Kriterien entsprochen haben. Diese nehmen wir uns dann vor und schauen sie uns genau an. Hier müssen dann die Kriterien zutreffen.

Was sind das für Kriterien?

Spieß: Es handelt sich dann um ein Unwort, wenn ein Sprachgebrauch gegen die Menschenwürde verstößt, gegen Prinzipien der Demokratie, bestimmte soziale Gruppen diskriminiert, diffamiert oder einen Sachverhalt verschleiert, euphemisiert. Diese vier Kriterien treffen alle auf das Unwort des Jahres 2023 zu.

Haben Sie das aufgrund der aktuellen Debatte noch mal geändert? Denn das Wort muss bis Dezember 2023 auch eingereicht worden sein.

Spieß: Das Wort wurde im Laufe des Jahres 2023 27 mal eingereicht und das auch schon über das ganze Jahr hinweg. Unsere Nachrecherchen haben ergeben, dass das im öffentlichen Diskurs und im Deutschen Bundestag bereits auch schon im Januar 2023 erwähnt wurde. Wir haben unsere Favoritenliste vor der Correctiv-Studie erstellt, sodass das keinen Einfluss darauf gehabt hat.

Das Interview führte Eva Schramm.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal Gespräch | 15.01.2024 | 16:15 Uhr

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