Offener Brief an Kanzler Scholz: "Empathielos und herablassend"
In einem Offenen Brief haben mehrere Prominente vor der Gefahr eines Dritten Weltkrieges gewarnt und Kanzler Olaf Scholz (SPD) aufgerufen, besonnen zu bleiben. Musiker und Autor Wolfgang Müller widerspricht den Unterzeichnern.
Anlass für den Offenen Brief ist die Debatte über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Initiiert wurde er unter anderem von "Emma"-Chefredakteurin Alice Schwarzer. Viele Prominente wie der Schriftsteller Martin Walser, Kabarettist Dieter Nuhr oder Musiker Reinhard Mey unterzeichneten ihn.
Wolfgang Müller: "Atomschlag-Drohung ist virulent seit dem ersten Kriegstag"
Herr Müller, Wladimir Putin hat dem Westen zuletzt noch einmal gedroht: Russland werde blitzschnell antworten, wenn es Kriegseingriffe gibt. Machen Ihnen diese Drohungen nicht große Sorgen?
Wolfgang Müller: Doch, das macht mir gigantische Sorgen. Das hat mir aber auch schon vom ersten Tag an Sorgen gemacht, diese Atomschlag-Drohung ist ja virulent seit dem ersten Kriegstag. Die Gründe für diesen Krieg oder auch die Unterstellungen und Forderungen an den Westen entbehren so sehr jeder sachlichen Grundlage, dass eine richtige Einschätzung dafür, was gefährlich ist und was nicht, eigentlich nicht mehr möglich ist. Jede Frage sicherheitspolitischer Art, die zurzeit gestellt wird mit dem Zusatz "Könnte das einen Atomkrieg auslösen?", muss man mit "ja" beantworten. Denn die Gründe dafür kommen so beliebig, irrational und quergeschossen, dass eine richtige Einschätzung - für mich auf jeden Fall - nicht möglich ist.
Aber warum ist dann aus Ihrer Sicht eine Lieferung von schweren Waffen der richtige Weg?
Müller: Ich habe nicht gesagt, dass das der richtige Weg ist. Ich habe gesagt, dass ich glaube, dass wenn diese Angst vor dem Atomkrieg das einzige determinierende Element für Entscheidungen ist, man gar nichts mehr entscheiden kann, weil die Ansage, wann das passieren könnte, so niederschwellig ist. Anders formuliert: Wenn so ein paar lausige Panzer ein Grund für einen Atomschlag sind, was bleibt denn dann noch übrig? Ich habe auch keine finale Lösung und schwere Waffen sind die auch nicht. Was sich aber auf jeden Fall finde, ist, dass es jemandem wie Alice Schwarzer oder den ganzen Leuten, die da unterzeichnet haben, in keinster Weise zusteht, diese armen Menschen in der Ukraine darüber zu belehren, dass sie sich doch bitte nicht mehr zu verteidigen haben und alles über sich ergehen lassen sollen, weil es sonst für alle zu gefährlich wird. Es steht wortwörtlich in diesem offenen Brief, dass die ukrainische Führung gar nicht berechtigt ist, das zu entscheiden, weil das so weitreichende Folgen hat. Ich denke, das ist eine bodenlose Frechheit.
Ich weiß nicht, wer so etwas sagen dürfte, aber bestimmt nicht irgendjemand, der sicher vor seinem Cappuccino sitzt und aufs Wasser guckt. Ich finde, das ist in seiner ganzen Haltung so empathielos, so herablassend und unangebracht, dass mich das einfach wahnsinnig aufgeregt hat. Ich bin kein Militärstratege und weiß auch nicht genau, was man tun kann, aber sich hinzustellen und den Leuten, die gerade unter Beschuss sind, die abgeschlachtet, die vergewaltigt werden, zu erklären, dass das die beste Option ist für alle, mit dieser Nonchalance und dieser völligen Selbstgerechtigkeit - da wird mir schlecht. Das ist auf jeden Fall völlig unangebracht.
Sie schreiben, es gehe auch darum, wie wir leben wollen - in Angst oder in Würde. Ist denn unsere Würde in diesem Fall so wichtig, wo es doch gerade um jedes einzelne Menschenleben dort geht?
Müller: Mit "Würde" ist eher gemeint, wie wir entscheiden wollen. Soll Angst der einzige Maßstab dafür sein, wie eine Entscheidung läuft? Ich bin heilfroh, dass ich das nicht entscheiden muss, weil ich keine finale Antwort habe. Ich glaube, es sollten die Ukrainer entscheiden, weil die ihren Arsch hinhalten und im Zweifelsfall wahrscheinlich auch zuerst betroffen wären, wenn es nuklear eskaliert. Warum entscheiden wir das? Wie können wir über fremde Menschenleben entscheiden? Und ob es einen Weltkrieg gibt oder nicht, kann ich nicht sagen, das kann keiner sagen. Wenn das so krass entgrenzt von der russischen Seite aus kommuniziert wird, dann muss man sich irgendwann darauf besinnen, wer wir sind und wo wir stehen wollen. Wenn man immer nur so auf diese Drohungen reagiert, dann sind die Handlungsoptionen völlig aufgehoben und dann ist man ein Sklave seiner Angst. Ob das nun der richtige Weg ist und zu mehr Sicherheit führt, weiß ich ehrlich gesagt nicht.
Die Unterzeichner sagen: Wir reagieren eben nicht mit noch mehr Waffen auf die Waffen, sondern wollen einen Weg gehen, um uns Verhandlungen nicht zu verbauen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass das Ganze mehr und mehr eskalieren könnte? Sollte man nicht eine Lösung suchen, die am Ende die wenigsten Todesopfer fordert?
Müller: Ich finde, es ist nicht an uns, das zu entscheiden. Das sollen die Ukrainer entscheiden. Wir sind alle, zurzeit jedenfalls, in Sicherheit. Wie können wir darüber entscheiden, wer wie viele Todesopfer in Kauf nehmen soll, wenn es uns persönlich gar nicht betrifft? Man kann für sich entscheiden, dass man diese Leute aus Angst nicht mit schweren Waffen unterstützt - sollen sie doch sterben, Hauptsache, uns passiert nichts. Das kann eine Haltung sein, meine ist es nicht, aber dann soll man es klar sagen.
In diesem offenen Brief wird diese Angst jedoch umgedeutet zu etwas moralisch Tollem. Als Pazifist ist möchte man sich die Verhandlungen offen halten mit Leuten, bei denen anscheinend niemand auch nur den Hauch eines Interesses an einer Verhandlung hat. Meiner Meinung nach ist es die Angst, sich einzugestehen, dass man im Grunde genommen machtlos ist und nicht riskieren möchte, selbst Opfer bringen zu müssen oder selber angegriffen zu werden. Ich kann das alles verstehen, aber dann soll man das so sagen. Dann soll man sich nicht hinstellen, sich einen Heiligenschein aufsetzen und mit erhobenem Zeigefinger diesen Leuten erklären, wie es läuft. Das finde ich einfach unsäglich.
Das Interview führte Jan Wiedemann.
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