Ostsee: Wie der Klimawandel dem Hering zusetzt

Er gilt als "Silber des Meeres", ist Brotfisch für viele Berufsfischer und fungiert als Namensgeber für viele Feste an der Küste: Der Hering ist eine der wichtigsten kommerziell genutzten Fischarten in der Ostsee. Gab es den Schwarmfisch in der Ostsee früher so häufig, dass er als "Arme-Leute-Essen" galt, verzeichnen Wissenschaftler inzwischen einen drastischen Rückgang: Laut dem Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) ist in der westlichen Ostsee der Bestand an erwachsenen Heringen, die Nachwuchs erzeugen können, von rund 300.000 Tonnen im Jahr 1991 auf rund 105.000 Tonnen im vergangenen Jahr gesunken. Einen Rückgang verzeichnen Forscher auch bei den Heringslarven. Als Grund vermuten sie den Klimawandel, der zur Erwärmung der Ostsee führt und damit zu phänologischen Veränderungen, also zur Verschiebung jahreszeitlich bedingter Wachstums- und Entwicklungsphasen.
Thünen-Institut beobachtet Nachwuchsproduktion
Das Rostocker Thünen-Institut für Ostseefischerei betreibt seit 1992 den sogenannten Rügen-Heringslarven-Survey (RHLS), bei dem die Larvenproduktion des Herings genau erfasst wird. Forschungsgebiet für den Larven-Survey ist der Greifswalder Bodden, der als "Kinderstube des Herings" gilt und aus Sicht der Wissenschaftler die Entwicklung der gesamten Heringspopulation in der westlichen Ostsee gut widerspiegelt. "Wir haben festgestellt, dass die Nachwuchsproduktion seit 2004 kontinuierlich zurückgeht, bis hin zu verschwindend geringen Zahlen in den vergangenen Jahren", sagt Projektleiter Patrick Polte.
Wissenschaftler sehen Veränderungen in der Phänologie
Über die Gründe für diese Entwicklung werde seit Langem geforscht. "Unsere Haupthypothese ist inzwischen, dass die Heringslarvenentwicklung stark an die Verläufe des Winters und die Temperaturen im Frühling gekoppelt ist", sagt Polte. "Wir haben beobachtet, dass es Veränderungen in der Phänologie gibt, also den jahreszeitlich bedingten Wachstums- und Entwicklungsbeziehungen in der Tier- und Pflanzenwelt. Und wir vermuten, dass unter Wasser ähnliches passiert wie an Land, wo sich aufgrund des Klimawandels bestimmte Blüten und die sie bestäubenden Insekten zunehmend verpassen könnten."
Entkopplung von Nahrungsbeziehungen unter Wasser?
Dieser "Mismatch", die sogenannte Entkopplung von Nahrungsbeziehungen, könnte unter Wasser gravierende Folgen haben. Die Eiablage des Herings in flachen Küstengebieten und das Schlüpfen der Larven sei an bestimmte Temperaturen gekoppelt und verschiebe sich aufgrund der kürzeren Winter tendenziell immer weiter nach vorn, sagt Polte. "Wir vermuten, dass die Heringslarven schlüpfen, wenn noch keine ausreichende Planktonnahrung zur Verfügung steht." Allerdings stehe die Forschung in diesem Punkt noch ganz am Anfang: "Wir konnten zeigen, dass der Hering in der Tendenz immer früher kommt, um seine Eier in den Laichgründen abzulegen. Dass die Larven ihre Planktonnahrung verpassen, konnten wir noch nicht nachweisen."
Stärkeres Algenwachstum
Der Klimawandel wirkt aber auch an anderen Stellen. Die Erwärmung des Meerwassers und Nährstoffeinträge sorgten für ein vermehrtes Algenwachstum. Eine Folge sei, dass Wasserpflanzen, auf denen der Hering seine Eier ablegt, zum Teil von Algenrasen überdeckt seien, erklärt Polte. Manche dieser Algen wirkten direkt giftig auf die Heringseier. "Zudem trüben die Algen das Wasser, sodass die Wasserpflanzen, auf denen die Heringseier abgelegt werden, nur noch im flachen Wasser auftreten. Dort sind sie Stürmen ausgesetzt, die Pflanzen und Eier losreißen und ans Ufer spülen."
Fangquote drastisch reduziert
Die Erkenntnisse des Thünen-Instituts zur Entwicklung des Heringsbestands fließen in die Arbeit des Internationalen Rates für Meeresforschung ein, der jährlich Empfehlungen zur Festlegung der Fangquoten an die EU-Kommission abgibt. Daneben nutzt der ICES weitere Erhebungen wie Anlandedaten der Fischerei und Daten aus der sogenannten Hydroakustik der Heringsschwärme in der westlichen Ostsee, bei der Unterwasserschall genutzt wird, um Aussagen über den Heringsbestand zu treffen. Aufgrund der Datenlage setzten sich der ICES sowie Umweltverbände 2018 dafür ein, den Heringsfang zunächst komplett auszusetzen, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Die EU-Staaten kappten die Fangquote für die westliche Ostsee allerdings drastisch um 48 Prozent, nachdem sie im Vorjahr bereits um 39 Prozent reduziert worden war. Nur noch 4.900 Tonnen Hering dürfen die Fischer 2019 aus der westlichen Ostsee holen. Zudem verlor die deutsche Herings-Schleppnetzfischerei 2018 aufgrund des geringen Bestandes das MSC-Siegel für nachhaltige Fischerei, sodass die Preise für den Fisch drastisch zurückgingen.
Fischer: "Die Fänge werden besser und besser"
Der Geschäftsführer der Erzeugergemeinschaft Nord- und Ostseefischer, Kai-Arne Schmidt, hat für die Sichtweise der Wissenschaft nur bedingt Verständnis. Auch den Fischern sei eine nachhaltige Bewirtschaftung des Bestandes wichtig, betont er. Allerdings spreche das, was die Fischer in der Ostsee beobachteten, weder für einen Rückgang des Bestandes noch für Probleme bei der Nachwuchsproduktion: "Die Fänge werden besser und besser, die Zusammensetzung des Fangs mit jungen und erwachsenen Fischen hat sich über die Jahre nicht geändert", sagt er. "Ich verstehe nicht, wieso die Fischer Nachwuchs fangen, wenn es den Nachwuchs nach Meinung der Wissenschaftler doch gar nicht mehr gibt." Eine Erklärung könne seiner Ansicht nach sein, dass der Hering inzwischen andere Laichgründe als den Greifswalder Bodden bevorzugt. Schmidt sieht die Heringsfischerei vor dem Aus, wenn es bei der drastischen Reduzierung der Fangquoten bleibt.
Forscher: "Schonung ist dringend notwendig"
Wissenschaftler Polte hingegen hält eine weitere Schonung des Heringsbestandes für dringend notwendig. In den 1970er-Jahren habe man schon einmal erlebt, dass die Fischereierträge zwar hoch gewesen seien, dann aber plötzlich einbrachen. "Der Hering ist ein Schwarmtier und sammelt sich zur Fortpflanzung in den Laichgebieten. Auch die Nachkommen ab etwa einem Jahr schließen sich den Schwärmen an." Dies könne erklären, dass die Fischer noch immer große Mengen an Hering antreffen, auch wenn der Bestand insgesamt geschrumpft sei.
