Zwei Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes stehen vor der Halle der Rettungswache Neumünster. © NDR

Rettungsdienst Neumünster: Herzinfarkt-Patientin im Stich gelassen

Stand: 16.06.2022 17:00 Uhr

Bei einem Herzinfarkt zählt jede Sekunde. Bei Hannelore Möhrpahl hat es drei Stunden gedauert, bis sie im OP war. Die Rettungskette scheiterte schon am Anfang.

eine Recherche von Sven Brosda und Alexandra Bauer

Die kommenden Stunden werden für Hannelore Möhrpahl zum Kampf gegen Folgeschäden oder sogar zum Kampf gegen den Tod. Die heute 72-Jährige wohnt in der Innenstadt von Neumünster. Am ersten September vergangenen Jahres hat sie heftige Schmerzen, mitten in der Nacht. Ihr Nacken tut weh, der Rücken auch, sie bekommt schlecht Luft. Möhrpahl versucht die Schmerzen auszuhalten, in der Hoffnung, dass es besser wird und sie morgens zum Hausarzt kann.

Der erste Notruf wird gewählt

Ein ältere Frau sitzt am Tisch in ihrem Wohnzimmer und berichtet über einen Notfall. © NDR
Hannelore Möhrpahl erleidet einen Herzinfarkt - kommt aber erst Stunden später in den OP.

Als es hell wird, kommt die Ernüchterung. Die Frau, die gedacht hat, ihren Körper zu kennen, merkt, dass sie es nicht mehr zum Arzt schafft. "Es tat alles sehr weh, die Schmerzen waren unerträglich", sagt sie. Möhrpahl wählt den Notruf 112 und bittet um Hilfe. Im System der Leitstelle wird um 07.58 Uhr protokolliert, dass eine Besatzung eines Rettungswagens der Berufsfeuerwehr in der Färberstraße alarmiert wird. Die Mitarbeiter sind fünf Minuten später in der Gartenallee und laut Protokoll sogar in dieser Minute bei ihrer Patientin.

Keine richtige körperliche Untersuchung

In der Wohnung angekommen, fragen die Rettungsdienstmitarbeiter nach den Schmerzen der Patientin. Im Einsatzprotokoll halten sie fest, Möhrpahl sei wach, ansprechbar und orientiert. Sie sei wegen Nackenschmerzen bereits in Behandlung, seit zwei Tagen habe sie vermehrt Schmerzen. Untersuchungen, wie zum Beispiel Puls, Atmung, Sauerstoff im Blut, dokumentieren sie nicht. Die Patientin bestätigt, dass es keine grundlegende Untersuchung gab.

"Beruhigen Sie sich"

Die 72-Jährige erinnert sich auch daran, dass eine Rettungsdienstbeschäftigte vor ihr kniete und meinte, sie solle sich beruhigen, sonst hyperventiliere sie und dann habe man ein Problem. "Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig. Ich war in Panik, ich möchte fast sagen, das war Todesangst. Ich habe Hilfe gebraucht", sagt Möhrpahl. Doch die Rettungskräfte kommen innerhalb von wenigen Minuten zu dem Ergebnis, dass sie die Patientin nicht ins Krankenhaus bringen werden.

"Ich kämpfte mit Atemnot und in meinem Kopf ging alles durcheinander, weil ich immer dachte, ich muss alles erzählen, was ich weiß - damit sie mir helfen können." Hannelore Möhrpahl

Schwester soll Transport ins Krankenhaus übernehmen

Zwischenzeitlich kommt Möhrpahls Schwester in der Wohnung in der Gartenallee an. Sie soll der 72-Jährigen eine Tasche für das Krankenhaus packen. Das passte auch dem Rettungsdienst offenbar ziemlich gut. Die Mitarbeiter sagen laut Möhrpahl, dass ihre Schwester sie in das Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster fahren soll. "Meine Schwester sagte: Ja. Ihr blieb ja auch gar nichts anderes übrig. Ihr war klar, dass es mir richtig schlecht geht."

Abfahrt erst nach Unterschrift

Möhrpahl geht unter Schmerzen zum Auto, das direkt vor dem Haus stand. Als sie auf dem Beifahrersitz sitzt, gibt ihr ein Rettungsdienstmitarbeiter einen Zettel, den sie unterschreiben sollte. Ihr wurde nach eigenen Angaben gesagt, sie würde unterschreiben, dass sie direkt ins Krankenhaus fährt. "Das Papier gab ich meiner Schwester, weil ich meine Brille nicht auf hatte und das gar nicht lesen konnte. Der Mitarbeiter nahm meiner Schwester den Zettel wieder weg und sagte, nein, nein, das müsse ich unterschreiben." Möhrpahl will schnell in die Klinik und unterschreibt. Die Rettungskräfte melden sich um 08.19 Uhr, also 16 Minuten nach dem sie bei der Patientin angekommen waren, bei der Leitstelle wieder einsatzbereit.

Akuter Herzinfarkt mit ST-Hebungen

Ein Arztbrief zeigt die Diagnose: ST-Hebungsinfarkt. © NDR Foto: Sven Brosda
Die Unterlagen zeigen: Aus "Kapazitätsgründen" muss Hannelore Möhrpahl nach Kiel gebracht werden.

Um 08.32 Uhr wird Möhrpahl im Friedrich-Ebert-Krankenhaus aufgenommen. Kurz darauf wird bei ihr durch ein EKG, dass auch standardmäßig auf einem Rettungswagen vorhanden ist, ein Herzinfarkt festgestellt. In den OP kommt sie in Neumünster aber nicht. Aus dem Arztbrief geht hervor, dass das FEK keine "Kapazitäten" hatte und sie deshalb nicht innerhalb von 90 Minuten operiert werden konnte. So wird es bei dieser lebensbedrohlichen Erkrankung von Fachgesellschaften empfohlen. Die Deutsche Herzstiftung schreibt: Bei einem Infarkt spiele Zeit eine entscheidende Rolle. Je schneller das Gefäß wieder offen sei und der Muskel wieder durchblutet werde, umso geringer sei der Schaden, den der Herzmuskel erleide. Umso geringer seien dann auch Komplikationen und umso größer sei die Chance der Patientin oder des Patienten, den Herzinfarkt zu überleben.

Von Neumünster nach Kiel

Jetzt ruft das Friedrich-Ebert-Krankenhaus den Rettungsdienst. Dieses Mal wird die Besatzung des Rettungswagens 10-83-01 alarmiert, der Wagen fährt laut Protokoll um 09.58 Uhr von der Rettungswache in der Färberstraße los. Sieben Minuten später sind die Rettungsdienstmitarbeiter am Krankenhaus und holen die Herzinfarkt-Patientin ab. Um 10.22 Uhr startet die Fahrt nach Kiel. Mit an Bord ist eine Ärztin, die den Zustand der Patientin überwacht. Um 11.00 Uhr kommen Möhrpahl, die Ärztin und die Rettungsdienstmitarbeiter im Städtischen Krankenhaus an. Rund drei Stunden nach dem die Patientin den Notruf in ihrer Wohnung gewählt hatte. Im Städtischen Krankenhaus geht es direkt in den OP, einige Tage später zur Reha.

Nachfrage beim Rettungsdienst

Ein Einsatzprotokoll dokumentiert den Fall von Hannelore Möhrpahl. © NDR Foto: Sven Brosda
Das Einsatzprotokoll erhält Hannelore Möhrpahl erst nach mehrmaligem Nachfragen.

Hannelore Möhrpahl will ihre Erkrankung aufarbeiten und verstehen, warum sie an dem Morgen vom Rettungsdienst nicht die Hilfe bekommen hat, die sie gebraucht hätte. Sie will auch wissen, warum sie nicht direkt in das richtige Krankenhaus gefahren wurde. Sie schreibt der Stadt. Anfang Oktober bekommt sie Post. In der Antwort steht: "Die von unseren Mitarbeitenden nach anerkannten und erprobten rettungsdienstlichen Algorithmen durchgeführte Anamnese hat dabei rückblickend nicht zu der Diagnose geführt, die ihrer Schilderung nach im Krankenhaus erhoben wurde. Berücksichtigt man jedoch nur die vor Ort zur Verfügung stehenden Ergebnisse, dann lässt sich die Einschätzung der Kollegen fachlich nachvollziehen." Möhrpahl fragt sich, welche Ergebnisse damit gemeint sind.

Keine Unterlagen vom Rettungsdienst

Einen Durchschlag des Einsatzprotokolls und des Zettels, den sie auf dem Beifahrersitz unterschrieben hatte, gab es für die Patientin damals nicht. Möhrpahl möchte aber wissen, was sie unterschrieben hat. Anfang November bittet sie beim Fachdienst Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz um die Daten. In einer ersten Antwort wird ihr unter anderem mitgeteilt, dass ihre Daten zehn Jahre gespeichert werden. Protokoll und der Zettel sind nicht dabei. Möhrpahl schreibt wieder. Dann bekommt sie Screenshots aus dem Leitstellensystem. Darin sind die An- und Abfahrtszeiten der Rettungswagen protokolliert. Die angeforderten Daten sind wieder nicht dabei. Die 72-Jährige gibt nicht auf und schreibt erneut. Erst nach dem dritten Brief schickt ihr die Stadt das Einsatzprotokoll und eine Kopie des Zettels mit ihrer Unterschrift.

"Sobald ich einen Rettungswagen sehe, kommt die Erinnerung wieder hoch. Ich lebe alleine. Was passiert, wenn ich das nächste Mal einen Rettungswagen rufe? Klappt es oder klappt es nicht?" Hannelore Möhrpahl

Mörpahl: "Ich wurde nicht aufgeklärt"

Eine Transportverweigerung ist unterschrieben. Darauf steht, dass die Verweigerung Pflegebedürftigkeit und Todesfolge bedeuten könnte. © NDR Foto: Sven Brosda
Hannelore Möhrpahl unterzeichnet eine Transportverweigerungserklärung, wie sich erst Monate später herausstellt.

Möhrpahl schaut sich die Unterlagen an und ist sprachlos. Sie hat eine sogenannte Transportverweigerungserklärung unterschrieben. Darin steht, dass sie die Beförderung in ein Krankenhaus entgegen der Belehrung des Rettungsdienstes abgelehnt hat. Ohne Abklärung in einem Krankenhaus sei ein internistischer Notfall, wie ein Infarkt, nicht auszuschließen. Weiter wird handschriftlich vermerkt, die möglichen Folgen der Verweigerung seien Pflegebedürftigkeit und Todesfolge. Dabei wollte sie ins Krankenhaus. Das bestätigt auch das Einsatzprotokoll des Rettungsdienstes. Darin steht: "Patientin war der Annahme, dass es mit Rettungswagen schneller ins Krankenhaus gehe." Dann steht dort: "Nach Aufklärung sind alle Beteiligte einverstanden eigenständig ins Friedrich-Ebert-Krankenhaus zu fahren". "Ich wurde nicht aufgeklärt", so Möhrpahl. Sie fühlt sich belogen.

Stadt will keine konkreten Fragen beantworten

Wieso wurde die damals 71-Jährige nicht direkt in eine Klinik mit entsprechenden Kapazitäten gebracht, obwohl der Rettungsdienst einen Notfall nicht ausschließen konnte? Wieso wurde kein Notarzt alarmiert? Die Stadt will konkrete Nachfragen von NDR Schleswig-Holstein nicht beantworten, räumt aber ein, dass der Einsatz aufgearbeitet wurde. Seitdem müssen Untersuchungsergebnisse, wie zum Beispiel EKG-Daten von den Rettungsdienstmitarbeitern ausgedruckt und am Einsatzprotokoll angeheftet werden. So soll offenbar eine bessere Dokumentation sichergestellt werden. Fachanwälte für Medizinrecht raten Möhrpahl, den Rettungsdienst wegen eines Behandlungsfehlers zu verklagen. Darüber entschieden hat sie noch nicht. Sie hofft aber, dass durch ihren Fall und die neuen Regeln anderen Notfallpatienten in Neumünster besser und schneller geholfen wird.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 16.06.2022 | 17:00 Uhr

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