Mut gefragt: Als Erwachsener Lesen und Schreiben lernen
von Lina Bande
Voll konzentriert schaut Erika Köster auf ihr Arbeitsblatt. Immer wieder überprüft sie, ob sie die Wörter auf der Tafel richtig abgeschrieben hat, zählt auch mit den Fingern die Silben nach. Ein Apothekenbesuch ist das Thema, das Wort 'Medikamente' geht ihr beim Vorlesen nur schwer von den Lippen. Aber dass sie es überhaupt lesen kann, ist schon ein großer Erfolg: Köster ist Analphabetin und besucht einen Grundkurs zum Lesen und Schreiben lernen an der Volkshochschule (VHS) in Kiel.
Jeder achte Erwachsene ist Analphabet
Sie gehört zu den knapp 220.000 Schleswig-Holsteinern, die nicht richtig lesen und schreiben können. Diese Zahl zu sogenannten funktionalen Analphabeten stammt aus einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018. Demnach gibt es deutschlandweit rund 6,2 Millionen Menschen, die zwar zur Schule gegangen sind und Buchstaben, Wörter sowie Laute kennen. Diese können sie aber nicht richtig verknüpfen und scheitern dann beim Schreiben und Lesen von Sätzen.
"Konnte nichts und wusste nicht weiter"
So war es auch bei Erika Köster. An ihre Schulzeit in den 70er-Jahren denkt sie nur ungern zurück: "Die Lehrer haben sich nicht um mich gekümmert. Ich saß alleine mit meinen Problemen da und habe nur zugehört, weil ich nicht weiter wusste, nichts konnte." Keine Förderung in der Schule, keine Förderung durch die Eltern, kein Schulabschluss. Dass sie nicht lesen und schreiben kann, verheimlicht sie über Jahrzehnte - auch vor ihrem Arbeitgeber, einer Behindertenwerkstatt.
Schlechte Erfahrungen abstreifen
Viele der Teilnehmenden am VHS-Kurs hätten ähnliche Geschichten, sagt Dozentin Stefanie Hartenstein. Beim Unterricht komme es deshalb nicht auf das Lernen von Buchstaben an, sondern vor allem auf mentale Aspekte. "Schwer ist es immer, die schlechten Erfahrungen, die man in der Schule gemacht hat, zu löschen und zu ersetzen durch gute Erfahrungen, die hier hoffentlich gemacht werden", erklärt Hartenstein.
Wer neu in den Kurs kommt, hat erst einmal eine Einzelstunde. So können Stefanie Hartenstein und ihre Kollegin klären, wo sie ansetzen müssen. In einem Kurs werden bis zu sechs Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Alle auf unterschiedlichem Niveau, aber eben alle in einer geschützten Gruppe.
Anmeldung zum Kurs kostet Überwindung
Die meisten würden schnell Fortschritte machen, erzählt Stefanie Hartenstein. Meistens koste es einfach richtig Überwindung, ob beim Vorlesen, an der Tafel oder - wie bei Erika Köster - schon bei der Anmeldung. Sie wollte damals endlich ein bisschen Lesen lernen und hatte bereits eine Nachhilfelehrerin engagiert. Die gab ihr dann die Nummer der VHS, und beim ersten Besuch dort stand die Schülerin erstmal lange unten vor dem Eingang. "Ich hatte Angst reinzugehen. Aber ich hab mich überwunden, und der Chef oben hat gestaunt, dass ich das geschafft habe."
Ehemann hilft im Alltag
Inzwischen besucht Köster den Kurs schon seit Jahren. Die Angebote der VHS in Kiel zum Lesen und Schreiben lernen sind alle kostenfrei und laufen das ganze Jahr hindurch. Teilnehmer dürfen so lange mitmachen, wie sie möchten.
Erika Köster nimmt zweimal in der Woche teil, an den anderen Tagen übt sie Zuhause. "Da hab ich meine eigenen Schulsachen und mein Buch. Darin lese ich mit meinem Mann zusammen. Manchmal aber auch alleine, und das kriege ich dann auch hin", erzählt sie stolz. Ihr Mann unterstützt sie auch im Alltag, etwa bei Formularen und Arztbesuchen.
Anderen Analphabeten Mut machen
In der Vergangenheit wurde sie auch mal ausgelacht, weil sie Schilder nicht lesen konnte oder einfach nicht weiter wusste. Da habe sie sich sehr geschämt und sei öfter in Tränen ausgebrochen, erinnert sich Köster. Mittlerweile steht sie aber dazu, dass sie nicht richtig lesen und schreiben kann: "Ich möchte anderen Mut machen, dass sie keine Angst haben brauchen, hierher zur VHS zu kommen."
Schließlich hat sich Erika Kösters eigener Mut ausgezahlt. Heute liest sie mühelos fast alles vor, was die Kursleiterin an die Tafel schreibt. Und nach mehr als 40 Jahren traut sie sich nun auch, selbst etwas an die Tafel zu schreiben. Vor allem anderen Kursteilnehmern und ihrer Lehrerin.
