Der genaue Tathergang ist weiter unklar, noch liegen nicht alle Zeugenaussagen vor. Nach Angaben des Innenministeriums gingen um 14.56 Uhr erste Notrufe bei Leitstelle der Polizei ein, dass ein Mann kurz vor dem Bahnhof Brokstedt (Kreis Steinburg) Fahrgäste mit einer Stichwaffe angegriffen haben soll. In dem RE70, der von Kiel nach Hamburg fuhr, saßen etwa 120 Menschen. Einige der Passagiere haben den Angreifer noch im Zug überwältigt. Sieben bis acht Minuten nach der Tat sei ein erster Streifenwagen am Bahnhof eingetroffen, sagte der Leiter der Polizeidirektion Itzehoe, Frank Matthiesen. Am Anfang sei die Lage "extrem chaotisch" gewesen.
Die Ermittler sprechen von einer Stichwaffe. Detaillierte Angaben will die Staatsanwaltschaft nicht machen. "Das wollen wir von den Zeugen hören", sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge. Ohlrogge bestätigte, dass der mutmaßliche Täter bereits vor dem Tattag mit einer "Stichwaffen-Straftat" in Hamburg in Erscheinung getreten sei. Aus dem damaligen Urteil geht hervor, dass Ibrahim A. ein Klappmesser benutzt hatte. In Nordrhein-Westfalen wurde der Mann von einem Amtsgericht wegen gefährlicher Körperverletzung "mit einem scharfkantigen Gegenstand" zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Bei dem Mann handelt es sich laut Innenministerium um Ibrahim A., einen 33-Jährigen aus Gaza ohne festen Wohnsitz. Wie das Schleswig-Holsteinische Sozialministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mitteilten, war seine Staatszugehörigkeit ungeklärt. Bei seiner Einreise nach Deutschland im Jahr 2014 hatte sich der Mann als staatenloser Palästinenser vorgestellt. Wie die Mehrheit der EU-Staaten erkennt auch die Bundesrepublik die palästinensischen Gebiete nicht als eigenständigen Staat an. Die Staatenlosigkeit von Ibrahim A. wurde aber nie von einer offiziellen Stelle festgestellt, das hätte eine Ausländerbehörde beantragen müssen. Ein Asylantrag wurde abgelehnt, A. wurde jedoch subsidiärer Schutz gewährt. In Deutschland lebte er zunächst in Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde er unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Von Juli bis November 2021 war der Mann in Kiel gemeldet. In einer Gemeinschaftsunterkunft der Landeshauptstadt für geflüchtete Menschen erhielt er ein Hausverbot, weil er Mitbewohnende bedroht haben soll. Damals hantierte er laut Sozialministerium mit einem Messer. Anschließend lebte er offenbar im Raum Hamburg. Dort soll er im Januar 2022 einen anderen Mann mit einem Messer verletzt haben. Dafür saß er bis kurz vor der Tat in U-Haft in Hamburg.
Laut der Kieler Ausländerbehörde ist Ibrahim A. am Tag der Tat zwischen 10 und 11 Uhr ohne Termin an den Info-Point der Zuwanderungsabteilung gekommen, um dort seinen Aufenthaltstitel zu verlängern. Dafür muss der gewöhnliche Aufenthaltsort Kiel sein. Der Mann sei deshalb auf die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Männer (ZBS) verwiesen worden. Ihm wurde mitgeteilt, dass er erst danach beim Einwohnermeldeamt vorstellig werden könne. Der Mann betonte nach Angaben der Ausländerbehörde mehrmals, dass er einen Schlafplatz in Hamburg habe. Daraufhin sei der darauf hingewiesen worden, dass er sich dann in Hamburg anmelden müsste. Von der Zuwanderungsabteilung ging Ibrahim A. nach aktuellen Erkenntnissen direkt zum Einwohnermeldeamt. Dort sei ihm mitgeteilt worden, dass eine Anmeldung ohne festen Wohnsitz nicht möglich ist. Er sei erneut zu ZBS geschickt worden. Dort kam er nach derzeitigem Stand aber nicht an. Sowohl bei der Zuwanderungsabteilung als auch im Einwohnermeldeamt war der Mann nach Angaben der Stadt ruhig und es kam zu keinen besonderen Vorkommnissen.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Itzehoe ist der 33-Jährige ein mehrfach in Erscheinung getretener Straftäter, gilt nach den Regelungen in Schleswig-Holstein aber nicht als Intensivtäter. In Schleswig-Holstein ist A. polizeilich nicht aktenkundig. Er wurde laut Innenministerium nur durch eine Streitigkeit und einen Ladendiebstahl auffällig. Anders sieht es in Nordrhein-Westfalen und Hamburg aus. Das Amtsgericht Euskirchen verurteilte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung "mit einem scharfkantigen Gegenstand" zu einem Jahr Haft auf Bewährung, hieß es am Dienstag (31.1.) im nordrhein-westfälischen Rechtsausschuss. Außerdem wurde zweimal eine Geldstrafe verhängt, für einen Diebstahl und einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. In Hamburg soll Ibrahim A. im Januar 2022 vor einer Essensausgabe für Wohnungslose einen anderen Mann mit einem Messer schwer verletzt haben. Dafür wurde er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung verurteilt, die er fast vollständig in U-Haft verbrachte. Laut der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz ist A. während der Haft auffällig geworden, weshalb eine psychiatrische Betreuung durchgängig stattgefunden habe. Am Sonntag (5.2.) wurde dann bekannt, dass Ibrahim A. in der U-Haft Aussagen in Bezug auf Anis Amri getätigt haben soll, der 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast war. Ibrahim A. soll sich mit Amri verglichen haben. Diese Äußerungen waren aber nicht an die Hamburger Justizbehörde oder das Landesamt für Verfassungsschutz gemeldet worden. Laut Justizbehörde handelte es sich bei den Äußerungen um einen einmaligen Vorfall, weitere Hinweise auf einen extremistischen Hintergrund habe es nicht gegeben. Auch beim Verfassungsschutz ist Ibrahim A. demnach nicht als extremistisch bekannt.
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Der mutmaßliche Messerangreifer von Brokstedt saß kurz vor der Tat in Hamburg in U-Haft und galt als psychisch auffällig.
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Der mutmaßliche Täter saß bis zum 19. Januar 2023 in einem Hamburger Gefängnis in Untersuchungshaft, weil er einen anderen Mann mit einem Messer schwer verletzt haben soll. Dafür wurde er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche verurteilt. Gegen dieses Urteil legte er Rechtsmittel ein und kam daher zunächst zurück in U-Haft. Zu einem Berufungsverfahren kam es nicht, nach Angaben der Hamburger Justizsenatorin Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) war jedoch bereits klar, dass in keinem Fall eine höhere Strafe ausgesprochen werden würde. Da die Dauer der U-Haft die Freiheitsstrafe nicht übersteigen darf, wurde A. nach rund einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen. Es gebe keine Verpflichtung in irgendeiner Form, aus der U-Haft Entlassene zu betreuen, sagte Itzehoes Leitender Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge. Die Freilassung sei "so vorgesehen in unserem Rechtssystem", sagt Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU). Gallina wies Vorwürfe zurück, man habe den wohnungslosen Mann quasi auf die Straße entlassen. Es seien alle vorgesehenen Maßnahmen eingehalten worden. Eine Behördensprecherin sagte, ein Psychiater habe kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt. Demnach gab es keine Rechtsgrundlage, ihn länger in Haft zu behalten.
Laut Staatsanwaltschaft gibt es keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund oder eine lange geplante Tat. Natürlich fließen die aktuellen Informationen zum Tatverdächtigen auch in die Ermittlungsarbeit der Mordkommission mit ein, teilte die Polizeidirektion Itzehoe mit. Am Vormittag des Tattages war der mutmaßliche Täter an einem Info-Point der Zuwanderungsbehörde und im Einwohnermeldeamt. Vor dem Haftrichter hat sich der mutmaßliche Täter nicht dazu geäußert.
Ibrahim A. ist nach Angaben des Innenministeriums Ende 2014 erstmals nach Deutschland eingereist. Aus welchen Land er damals kam, ist unklar. Bei seiner Einreise stellte er sich als staatenloser Palästinenser vor, die Staatenlosigkeit wurde jedoch nie offiziell festgestellt. Somit gilt seine Staatszugehörigkeit als ungeklärt. Im Jahr 2016 wurde sein Asylantrag abgelehnt, ihm wurde jedoch subsidiärer Schutz gewährt - jener Schutz also, der greift, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und dem Menschen im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Nach Angaben der Stadt informierte die Zuwanderungsabteilung Kiel 2021 das Bundesamt für Migration und Flüchtling (BAMF) darüber, dass A. mehrfach straffällig geworden war. Daraufhin sei ein Verfahren auf Rücknahme des subsidiären Schutzes eingeleitet worden. Weil das BAMF jedoch keine korrekte Anschrift des wohnungslosen Mannes ermitteln konnte, habe das Verfahren lange nicht vorangebracht werden können, sagte ein Vertreter des BAMF im Innen- und Rechtsausschuss. Als A. in U-Haft saß, hätte man ihn demnach leichter erreichen können - doch weder das BAMF noch die Ausländerbehörde wurden nach eigenen Angaben aus Hamburg darüber informiert, dass der Mann dort festgenommen wurde und vor Gericht stand. Zum Zeitpunkt der Tat hielt sich Ibrahim A. also legal in Deutschland auf. Allerdings ist unklar, ob der Mann tatsächlich abgeschoben worden wäre, wenn ihm der Schutzstatus aberkannt worden wäre. Da seine Staatszugehörigkeit unklar war, hätte zunächst geklärt werden müssen, in welches Land er gebracht werden sollte.
Er wurde leicht verletzt und ohne Widerstand festgenommen und befand sich nach einem Krankenhausaufenthalt schon am Donnerstag (26.1.) wieder in Gewahrsam der Polizei. Am Donnerstagnachmittag erließ das Amtsgericht Itzehoe Haftbefehl. Der Mann wurde zunächst in die Justizvollzugsanstalt Itzehoe gebracht. Am Freitag (27.1.) wurde er in die JVA Neumünster verlegt, wo es "bessere Möglichkeiten für eine mögliche medizinische Folgebehandlung" gebe, so ein Sprecher des Justizministeriums.
Bei den beiden Todesopfern handelt es sich um eine 17 Jahre alte Jugendliche und ihren 19 Jahre alten Bekannten. Beide stammten aus Schleswig-Holstein und gingen auf eine Schule in Neumünster. Bei der Tat wurden fünf Menschen und der mutmaßliche Täter selbst verletzt - zwei Menschen lebensgefährlich, drei weitere schwer. Drei der Verletzten wurden in Krankenhäusern behandelt, darunter ein 62-jähriger Mann und eine 54-jährige Frau aus Schleswig-Holstein sowie eine 27-Jährige aus Hamburg. Der Zustand der drei sei stabil und alle bei Bewusstsein, berichtete die Polizei fünf Tage nach der Tat. Am Mittwoch (8.2.) teilte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) mit, dass alle drei noch "mit sehr, sehr schweren Verletzungen" im Krankenhaus seien. "Da gibt es nur ganz langsame Verbesserungen. Ihr Zustand ist stabil, aber mit den Verletzungen werden sie wahrscheinlich noch sehr lange zu tun haben", sagte sie in einem Interview mit dem Flensburger Tageblatt. Zwei weitere 22 Jahre alte Verletzte aus Schleswig-Holstein haben das Krankenhaus bereits verlassen.
Bei dem 19-jährigen Todesopfer soll es sich um einen Auszubildenden der DB Fahrzeuginstandhaltung Neumünster handeln, der auch Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Nord war. Das teilte die Gewerkschaft auf Facebook mit. Demnach sei ein weiterer Kollege unter den Schwerverletzten.
Noch unklar ist, wie viele Menschen durch die Tat seelische Schäden davongetragen haben. Im Zug befanden sich nach Angaben der Bahn 120 Personen, auch Ersthelferinnen und Ersthelfer oder sonstige Augenzeuginnen und -zeugen können traumatisiert sein. Bei einer eigens dafür eingerichteten Hilfehotline sind nach Angaben des Justizministeriums bis Dienstag (31.1.) 40 Anrufe eingegangen. Die Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich in den kommenden Tagen und Wochen noch mehr Menschen melden, denen das Erlebte zu schaffen macht.
Die Itzehoer Mordkommission ermittelt mit der Staatsanwaltschaft Itzehoe. Um den Tathergang im Zug belastbar schildern zu können, müsse man möglichst viele Zeugen hören, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft. 120 Menschen saßen in dem Zug. Inzwischen seien alle befragt worden, sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack am Mittwoch (8.2.). Gegen den mutmaßlichen Täter hat das Amtsgericht Itzehoe Haftbefehl erlassen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt offiziell "wegen zweifachen, heimtückischen Mordes und vier Fällen des versuchten Totschlags". Am Freitag (3.2.) wurde den Ermittlerinnen und Ermittlern in Itzehoe von der Hamburger Justizbehörde eine Kopie der Gefangenenpersonalakte von Ibrahim A. übergeben. Außerdem beschäftigen sich verschiedene Ausschüsse in Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordrhein-Westfalen mit der Rolle der Behörden. Unter anderem soll geklärt werden, wie Informationen unter den Bundesländern ausgetauscht wurden und ob es Versäumnisse gab.
In dem Zug, in dem sich die Tat ereignete, gab es keine Videoüberwachung. Die Mordkommission Itzehoe hat ein Hinweisportal für das anonyme Hochladen von Video-, Foto- und sonstigen Dateien über den Link sh.hinweisportal.de freigeschaltet. Inzwischen habe die Polizei auch alle 120 Zeuginnen und Zeugen befragt, die in dem Zug waren, sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack am Mittwoch (8.2.). Zwischen 20 und 30 Menschen haben die Tat demnach direkt miterlebt. Ein komplettes Bild des Tatablaufs liege aber noch nicht vor, so die Innenministerin.
Die Landesregierung hat ein Hilfetelefon eingerichtet. Es ist erreichbar unter der Telefonnummer (0800) 000 75 54. Auch die Opferschutzorganisation Weißer Ring bietet allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. Die zentrale Rufnummer 116 006 ist von 7 bis 22 Uhr erreichbar.