Montage: Schatten eines Jungen vor Kirchenbänken. © picture-alliance

Kommentar: Schweigen der Hirten, Schweigen der Herde

Stand: 13.06.2022 18:23 Uhr

Von mehr als 600 Betroffenen und mindestens 6.000 Einzeltaten ist in einer Studie zum Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im katholischen Bistum Münster die Rede. In der Studie ging es auch darum, ob das System Kirche eine Mitschuld trägt.

Ein Kommentar von Florian Breitmeier

Die Forscher sprechen von "desaströsen Zuständen". Jahrzehntelang hatten die Verantwortlichen im Bistum Münster den Schutz der Kirche im Blick und nicht das Leid der Betroffenen. Der Missbrauch sei flächendeckend geschehen, heißt es in der Studie, auch im Offizialatsbezirk Oldenburg. Vechta, Delmenhorst, Cloppenburg, Friesoythe werden unter anderem genannt. Besonders bitter stieß den Wissenschaftlern ein Fall aus den 80er-Jahren in Neuscharrel auf. Dort war ein Geistlicher eingesetzt, von dessen Missbrauchstaten laut der Studie auch der damalige Weihbischof in Vechta wusste. Juristisch verfolgt wurde der Fall nie, obwohl die Staatsanwaltschaft Kenntnis von den Vorwürfen gehabt habe, so die Forscher.

Die klerikale Macht des heiligen Mannes blieb gewahrt

Ein trauriges Beispiel unter vielen: Serientäter wurden versetzt und blieben im Amt. Auch weil die Justiz zuweilen wegschaute. So konnten die Kirchenverantwortlichen als mitbrüderliche Richter und fürsorgliche Vorgesetzte auftreten. Die klerikale Macht des heiligen Mannes am Altar blieb so gewahrt.

Schambesetztes Schweigen über Sexualität

Die Forscher haben aber nicht nur historisch und kirchenpolitisch auf den Umgang der Bistumsleitung mit Missbrauchsfällen geschaut. So herrschte vielerorts eine von der katholischen Sexualmoral provozierte Scheinheiligkeit. Die Lebenspraxis der meisten Katholikinnen und Katholiken deckte sich nicht mit der offiziellen Lehre aus Rom. Dieser Widerspruch wurde generell mit einem schambesetzten Schweigen über Sexualität zu überdecken versucht. Ein stickiges Klima, das es vor allem den Betroffenen in den Kirchengemeinden zusätzlich erschwerte, über Verbrechen zu sprechen.

Aufarbeitungsprozesse in den Gemeinden stehen bevor

Die Studie der Universität Münster zeigt: Es gab nicht nur ein eklatantes Versagen der Kirchenhierarchie. Oft schauten auch die Gläubigen vor Ort einfach weg, schwiegen oder reagierten nicht auf "offene Geheimnisse". Es gab ein Schweigen der Hirten, aber vielerorts eben auch der Herde. Es zählt zu den großen Verdiensten der Forscher, diesen Klerikalismus der Basis herausgearbeitet zu haben. Hier stehen schmerzhafte aber unbedingt notwendige Aufarbeitungsprozesse in den Gemeinden erst noch bevor.

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Kreuz auf einem Wörterbuch mit dem Wort Missbrauch. © picture alliance / Bildagentur-online/Ohde Foto: Bildagentur-online/Ohde

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 13.06.2022 | 18:00 Uhr

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