Frühere Högel-Vorgesetzte ab Donnerstag vor Gericht
Ab Donnerstag stehen acht damalige leitende Klinikmitarbeiter vor Gericht, die von der größten Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik gewusst haben könnten. Der Vorwurf: Tötung durch Unterlassen in acht Fällen.
Die Mordserie des Täters ist unfassbar. Insgesamt 87 Morde wurden dem ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel nachgewiesen. Darüber hinaus gibt es mehr als 130 weitere Verdachtsfälle, die nicht aufgeklärt werden können. Bei Opfern, die feuerbestattet wurden, kann kein verabreichtes Medikament mehr nachgewiesen werden.
Wurde der Mörder gedeckt?
Knapp zwei Jahre, nachdem Högel zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, steht das Oldenburger Landgericht vor einer schwierigen Entscheidungsfindung. Hätten Morde verhindert werden können? Haben Klinikmitarbeiter von seinen Taten gewusst? Hätten sie aufgrund von Verdachtsmomenten die Polizei einschalten müssen? Die Staatsanwaltschaft geht davon aus. Und dafür gibt es im Fall Klinikum Oldenburg gewichtige Indizien, im Fall Klinikum Delmenhorst harte Fakten.
Vier ehemalige Oldenburger Vorgesetzte des Krankenpflegers müssen sich vor Gericht verantworten. Der damalige Klinikchef, der Leiter der kardiochirurgischen Intensivstation, eine Pflegedirektorin und ein Pflegebereichsleiter. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sie von bis zu drei Morden wussten. Und dass sie, um den Ruf des Klinikums Oldenburg zu schützen, die Polizei nicht eingeschaltet haben.
Die "Todesliste"
Auf welche Beweise die Staatsanwaltschaft sich stützt, ist bislang unbekannt. Ein gewichtiges Indiz hingegen schon: eine Strichliste, die der damalige Pflegebereichsleiter Bernd N. erstellt hat. Er ist einer der jetzt Angeklagten. Auf dieser Liste sind die Namen von Pflegern und Krankenschwestern aufgeführt. Und hinter den Namen Striche: die Anzahl der Todesfälle, bei denen sie Dienst hatten. Ein Name sticht hervor: Niels Högel. Bei 18 verstorbenen Patienten war er dabei. Ein weiterer Name hat zehn Striche, drei haben neun, alle anderen liegen darunter.
"Gefährdung der Abteilung nicht zu akzeptieren"
Unter der Liste gibt es einen handschriftlichen Vermerk. Diesen habe Bernd N. laut eigener Aussage erst Jahre später hinzugefügt: "In einem Gespräch mit der Geschäftsführung, Pflegedienstleitung, Personalchef und Prof. D. wurde mir ausdrücklich mitgeteilt, dass die Beweislage auf keinen Fall ausreicht, um die Staatsanwaltschaft zu informieren. Eine Gefährdung der Abteilung, ja des gesamten Krankenhauses, ist nicht zu akzeptieren aufgrund von Verdachtsmomenten und vielen Zufällen." Und darunter noch eine weitere Zeile: Der Name des Mörders und dass dieser sich dann zum 15. Januar 2001 auf eine andere Station versetzen ließ. Wer damals im Fokus dieser internen Todesliste stand, steht damit außer Frage.
Die Angehörigen der Opfer
Sein Großvater ist eines der Opfer des ehemaligen Krankenpflegers. Am vergangenen Mittwoch sitzt Christian Marbach zusammen mit Karsten Krogmann im NDR Studio Oldenburg. Krogmann hat als Zeitungsreporter für die "Nordwest-Zeitung" berichtet und auch ein Buch über den Fall geschrieben. Inzwischen ist er Pressesprecher der Opferschutz-Organisation Weißer Ring. Die beiden haben sich seit der Urteilsverkündung gegen den Klinikmörder im Jahr 2019 nicht gesehen. Es gibt so viele offene Fragen, eine steht im Mittelpunkt: Hätte der Täter gestoppt werden können oder nicht sogar müssen? Auch die Strichliste ist Teil des Gesprächs. Für Krogmann ist sie ein gewichtiges Indiz, für Marbach der Beweis, dass die Angeklagten aus Oldenburg Schuld auf sich geladen haben.
Auftraggeber und Verfasser der Liste haben Schuld auf sich geladen
Christian Marbach sagt, die Liste sei eine Todesliste. "Da muss man ganz klar zu sagen, dass aus gutem und starkem Verdacht heraus jemand beauftragt wurde, die Todesfälle und die anwesenden Pfleger dort in eine Liste einzutragen. Man hat also ganz klar schon intern ermittelt, weil man wusste, dass dort jemand Menschen umbringt." Für Marbach steht fest, dass der Auftraggeber zum Erstellen der Liste und der Verfasser selbst Schuld auf sich geladen haben. "Wer sie danach zur Kenntnis gekriegt hat und nicht sofort damit zur Polizei gegangen ist, der macht sich schuldig an der Deckung in Oldenburg und der macht sich auch schuldig an den Ermordeten in Delmenhorst."
Gingen finanzielle Interessen vor Schutz der Patienten?
Von 1999 bis Ende 2002 arbeitete der Täter im Klinikum Oldenburg. Ab Dezember 2002 im Delmenhorster Krankenhaus. Dort mordete er weiter bis zum 23. Juni 2005. Eines steht außer Frage: Sollte es wirklich schwerwiegende Verdachtsmomente gegeben haben oder gar Kenntnis von seinen Taten, dann hätte die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden müssen. Und damit wären möglicherweise alle Morde in Delmenhorst verhindert worden. Karsten Krogmann formuliert ein Motiv, weshalb die Behörden trotz Strichliste nicht eingeschaltet worden sind: "Das zeigt ja, wie da Werte falsch - zumindest für meinen Begriff -, Werte falsch priorisiert wurden, dass man nämlich sagt: Hier geht es in erster Linie darum, ein Klinikum zu schützen, finanzielle Schäden von sich zu weisen, Rufschädigung zu vermeiden und nicht darum, Patienten zu schützen."
Högel mordet in Delmenhorst weiter
Der Mörder bekommt von seinen Vorgesetzten ein einwandfreies Arbeitszeugnis. Damit bewirbt er sich auf eine Stelle im Klinikum Delmenhorst. Er tritt den Dienst im Dezember 2002 an - und mordet nahtlos weiter. Viel spricht dafür, dass er allein in Delmenhorst etwa 200 Menschen ermordet haben könnte. Verurteilt wird er für 56 Morde in Delmenhorst und 31 in Oldenburg. Die Ermittler gehen von einer großen Dunkelziffer aus. Rund die Hälfte der verstorbenen Patienten wurde feuerbestattet. Verabreichte Medikamente können nicht mehr nachgewiesen werden. Andere hatten das Gift, das der Krankenpfleger ihnen mutmaßlich spritzte, auf ihrer Medikamentenliste stehen. Auch dann kann kein eindeutiger Beweis geführt werden, dass sie ermordet worden sind.
Vorgesetzte nehmen Warnungen nicht ernst
In Delmenhorst mehren sich die Bedenken gegen den Täter. Er wird als "Todespfleger", "Reanimationsrambo" oder auch nur als "großer Pechvogel" tituliert. Kollegen drängen darauf, dass er sich von ihren Patienten fernhält. Mitarbeiter, die ihren Verdacht äußern, dass da etwas nicht stimmen könne, werden nicht ernst genommen. Vorgesetzte tun diese Warnungen als üble Nachrede ab. So schilderten es Zeugen im Prozess gegen Högel.
Der Mörder wird überführt - darf aber weitermachen
Am 22. Juni 2005 wird der Krankenpfleger auf frischer Tat ertappt. Eine Kollegin sieht, dass er einem Patienten ein Medikament verabreicht. Ein anderer Kollege guckt in den Mülleimer und findet vier Ampullen des Herzmedikaments Gilurytmal. Eine Blutprobe wird genommen. Tags darauf steht das Ergebnis fest. Der Mörder ist damit eindeutig überführt. Trotzdem entscheiden seine Vorgesetzten, nicht sofort die Polizei einzuschalten. Der Krankenpfleger soll drei Tage später in Urlaub gehen. Die Verantwortlichen entscheiden deshalb auf Zeit zu spielen, so steht es in den Akten der ermittelnden Beamten. Eine fatale Fehlentscheidung. Denn wenige Stunden nach der Überführung bringt der Mörder eine weitere Patientin um.
Staatsanwaltschaft: Angeklagte wussten von weiteren Morden
Wegen dieses Falles stehen zwei damalige Oberärzte aus dem Klinikum Delmenhorst sowie der Stationsleiter Pflege und dessen Stellvertreterin ab Donnerstag vor Gericht. Der Vorwurf: Tötung durch Unterlassen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass zumindest einige der Angeklagten auch Kenntnis von vier weiteren Morden hatten. Christian Marbach ist überzeugt, dass "allein durch die Tatsache, dass er auf frischer Tat ertappt wurde und er trotzdem weiter morden konnte, die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung sehr groß ist."
Die Bedeutung des Prozesses
Für die unzähligen Angehörigen der Opfer geht die Aufarbeitung dieses beispiellosen Verbrechens damit in die letzte Runde. Es geht darum zu klären, ob verantwortliche Mitarbeiter einen Großteil der Morde hätten verhindern können, ja hätten verhindern müssen. Für Christian Marbach ist dieser Prozess deshalb besonders wichtig. Er ist überzeugt, dass die jetzt Angeklagten moralische Schuld auf sich geladen haben. Karsten Krogmann nennt die Gerichtsverhandlung eine Premiere. "Zumindest mit Blick auf Patientenmörder hat es das noch nicht gegeben, dass man neben einem Mörder auch versucht, Menschen zur Verantwortung zu ziehen, die um ihn herum gearbeitet haben, die vielleicht etwas gesehen haben oder die als Vorgesetzte für ihn auch eine Verantwortung trugen."
Hoffnung auf Gerechtigkeit
Angesetzt sind mehr als 50 Verhandlungstage. Weil die Staatsanwaltschaft Oldenburg die Ermittlungen mehr als zehn Jahre lang schleifen ließ, kommen nur noch Verurteilungen wegen Tötungsdelikten infrage. Andere mögliche Straftatbestände wie zum Beispiel Fahrlässigkeit sind wegen Verjährung juristisch nicht mehr relevant. Für Christian Marbach wäre eine Verurteilung der erhoffte Schlusspunkt: "Wir werden jetzt endlich diejenigen auch hoffentlich juristisch zur Verantwortung ziehen können, die diese Taten gedeckt und ermöglicht haben."
