"Vernetzung ist viel schneller, als man es von früher kannte"
Immer wieder kommt es im Land zu Protestmärschen gegen die Coronapolitik. Wer sind diese Menschen und was eint sie? Ein Gespräch mit Florian Finkbeiner vom Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Seit Wochen gibt es die sogenannten Spaziergänge gegen die Corona-Politik. Was ist das für ein Milieu, das da nach Ihren Kenntnissen auf die Straße geht?
Florian Finkbeiner: Die Corona-Protestbewegung, die aktuell auf die Straßen geht, ist ein sehr heterogenes Protestspektrum. Da versammeln sich Menschen aus dem anthroposophischen Spektrum, aus esoterischen Zirkeln, auch links-grüne alternative Bürgerliche gehen da auf die Straße - aber auch Rechtsradikale. Wer sich wo auf den Straßen wie versammelt, hängt aber von regionalen und politisch-kulturellen Faktoren ab.
Man kann also jetzt nicht pauschal sagen: In Göttingen oder Salzgitter oder in Oldenburg gehen auf jeden Fall solche Leute auf die Straße. Wie mobilisieren sie sich?
Finkbeiner: Die Corona-Protestbewegungen in Niedersachsen werden überwiegend über Telegram-Kanäle, meist über die Freien Niedersachsen, mobilisiert und organisiert.
Haben Sie sich das mal angeguckt? Was sind die Freien Niedersachsen?
Finkbeiner: Die Freien Niedersachsen sind ein Telegram-Kanal nach dem Vorbild der rechtsradikalen Kleinpartei Freie Sachsen - es handelt sich hier aber nur um einen offenen Kanal - anders als bei den Freien Sachsen. Das ist ein offener Kanal mit über 20.000 Abonnenten und da werden im Prinzip dezentral die kleinen Protestveranstaltungen mobilisiert, bis zu 140, die angemeldet oder nicht angemeldet werden. Und darüber funktioniert die Vernetzung.
Und wer steckt dahinter, weiß man das?
Finkbeiner: Das weiß man nicht ganz genau. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass es maßgeblich Rechtsradikale sind, die im Hintergrund aktiv sind.
Es gab ja viele Protestbewegungen in den vergangenen zehn Jahren: Occupy, die Friedensmahnwachen nach der Ukraine-Krise 2014. Dann kam PeGiDa 2015, schließlich die "Querdenken"-Bewegung 2020 und jetzt diese "Spaziergänge". Wenn Sie das miteinander vergleichen: Was gibt es da an Gemeinsamkeiten und Unterschieden?
Finkbeiner: Die sogenannten Spaziergänger stehen sicherlich in einer Traditionslinie zu vergangenen Protestbewegungen der letzten Jahre. Sie benutzen die gleichen Formate, kombinieren aber das Repertoire. Das heißt, sie benutzen auch Großkundgebungen wie frühere Protestbewegungen - mischen aber auch kleinere, unangemeldete Protestmärsche dazu, die dann als "Spaziergänge" getarnt sind. Das kennt man schon von PeGiDa. Das aktuelle Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitsbehörden erinnert wiederum eigentlich viel mehr an frühere Taktiken aus der linken Protestgeschichte. Der große Unterschied zu den früheren Protestbewegungen ist aber eindeutig die Protestmobilisierung und dementsprechend die Geschwindigkeit der Kommunikation. Das heißt, es wird alles dezentral über die sozialen Medien gesteuert und kann kaum von Sicherheitsbehörden überwacht werden. Die Vernetzung ist viel schneller als man das von früheren Protestbewegungen kannte.
Werden hier nur Taktiken gemischt oder auch Weltanschauungen? Wenn Sie jetzt sagen, linke Protestbewegungen und PeGiDa - das ist ja weltanschaulich schon ein großer Unterschied...
Finkbeiner: Es gibt kein gemeinsames politisches Programm, das die verschiedenen Richtungen, die da zusammenkommen, irgendwie eint. Gemeinsam haben diese Corona-Proteste und die "Spaziergänge" eigentlich nur zwei Dinge: Das ist eine zweifache Negation. Das heißt, zum einen lehnen sie die Infektionsschutzpolitik ab, zum anderen misstrauen sie dem Staat und den politisch handelnden Akteuren. Teile lehnen diese sogar komplett ab, und das heißt eben auch dementsprechend, es sind eben nicht nur Rechtsradikale, die da eigentlich auf die Straßen gehen. Aber wie man jetzt immer mehr sehen kann in der Protestdynamik, gerade auch im Vergleich zum Jahr 2020, dass die Rechtsradikalen diese Proteste maßgeblich prägen und auch den Straßenprotest für sich vereinnahmen.
Wenn man sich jetzt diese Proteste anguckt: Die Leute sehen nicht unbedingt rechtsradikal aus.
Finkbeiner: Ja, das klassische Bild des rechtsradikalen Neonazis aus den 1990er-Jahren hat sich überlebt. Man kennt diese Diskussion ja auch schon von PeGiDa. Da hatte man ja auch das Problem, dass die Rechtsradikalen nicht mehr so aussehen wie sie vielleicht mal ausgesehen haben. Menschen von der Identitären Bewegung würde man jetzt auch nicht unbedingt sofort dem rechten Spektrum zuordnen, rein äußerlich.
Bei einem Protest von Impfgegnern in Herzberg gab es eine Art offenes Mikrofon. Dort konnten Leute ihre Sorgen zur Coronapolitik und Impfungen mitteilen und das wirkte eher wie besorgte Bürger. Ist Ihnen da auch etwas in diese Richtung aufgefallen?
Finkbeiner: Es ist ganz heterogen. Natürlich kann sich da jeder versammeln. Aber es gibt natürlich auch berechtigte Ängste und Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern, die auf die Straße gehen. Die Hemmschwelle ist aber inzwischen gesunken im Vergleich zu früheren Protestbewegungen. Das heißt, es macht aktuell den Menschen, die auf die Straße gehen, auch überhaupt nichts aus, wenn sie mit bekannten rechtsradikalen Kadern Seite an Seite auf der Straße protestieren und sich mit denen im Prinzip gemein machen.
Nun heißt es ja auch häufig, vor allem von der Politik, dass von diesen Protesten eine Gefahr für die Demokratie ausgehe und das Versammlungsrecht hier missbraucht würde und damit auch das Grundgesetz. Wie schätzen Sie das ein?
Finkbeiner: Die juristische Diskussion kann ich nicht beurteilen. Spaziergänge sind natürlich legal. Da ist an sich überhaupt nichts dagegen zu sagen. Wenn das Versammlungsrecht missbraucht wird, wenn die Auflagen nicht eingehalten werden, dann muss der Rechtsstaat natürlich dagegen etwas tun. Aber das heißt noch nicht, dass die Demokratie an sich als System in Gefahr steht.
Teilweise eskalieren die Proteste ja auch. Sehen Sie da irgendwelche Gefahren?
Finkbeiner: Ja, die Gefahr der Radikalisierung bei einzelnen Gruppen besteht auf jeden Fall. Davor warnen die Sicherheitsbehörden auch vollkommen zurecht.
Nun gab es ja schon den Vorfall, dass ein Anhänger der "Querdenken"-Bewegung, der die Maskenpflicht ablehnte, einen Tankstellenmitarbeiter erschossen haben soll, weil dort Maskenpflicht galt. Sehen Sie eine Gefahr für eine Radikalisierung bei aktuellen Protesten?
Finkbeiner: Die Gefahren dieser radikalen Einzeltäter besteht natürlich immer vor allem eben dadurch, wenn man sie einordnet in der längeren Protestgeschichte. Auch dieser Attentäter war ja auch schon bekannt in dem Milieu und hatte auch schon andere Protestbewegungen durchlebt. Die Gefahr besteht natürlich beständig.
Zu PeGiDa-Zeiten hat sich ja viel über Facebook organisiert. Ist Telegram jetzt das neue Facebook oder gibt es hier auch komplett neue Strukturen in der Logistik?
Finkbeiner: Es baut sich im Prinzip eine digitale Parallelwelt auf. Telegram ist sicherlich der bekannteste Messenger-Dienst, den es derzeit gibt, weil er einfach die geringsten Hürden zur Vernetzung hat, weil es keine Regulierung gibt und weil hier im Prinzip in Echtzeit organisiert werden kann. Parallel gibt es aber, wie es sich bei PeGiDa schon etabliert hatte, alteingesessene Strukturen von Facebook. Es gibt andere Plattformen und Netzwerke, die aber weiterhin bestehen und ausgebaut werden. Und im Prinzip vernetzen sich diese verschiedenen digitalen Milieus gerade. Das ist das Entscheidende in der aktuellen Bewegung.
Wie werden Sie die Protestbewegung weiter erforschen? Was gibt es noch an offenen Fragen?
Finkbeiner: Zum einen kann man die regionalen Unterschiede noch überhaupt nicht genau unterscheiden. Auch in Niedersachsen sind es ganz unterschiedliche Formate. Hier muss man natürlich empirisch erst mal die einzelnen Unterschiede genau analysieren.
Das Interview führte Wieland Gabcke.
