Stand: 14.02.2017 10:36 Uhr

Europa-Tour wird "Dobsches" Weg zum neuen Ich

von Tino Nowitzki

Eines Tages hat der Braunschweiger Kai Uwe Dobrzewski die Faxen dicke: Jahrelang tingelt er von einem Job zum anderen - er arbeitet als Mediengestalter, in der Süßigkeiten-Branche, als Techniker beim Radio. Nirgends ist er zufrieden. Auch mit der Liebe will es nicht so recht klappen - kurz: Dobrzewski ist frustriert. Doch was ihm am meisten fehlt: Freiheit. Der 43-Jährige, den alle nur "Dobsche" nennen, fasst einen Entschluss. Er will raus. Einfach wandern. Nein, vielleicht doch nicht einfach: Vom eiskalten Norden Europas bis tief in den Süden. Er kündigt seinen Job, seine Wohnung. Was er hat, das lagert er im Haus seiner Eltern ein. Den Rest nimmt er mit: Einen Rucksack, ein Zelt mit Schlafsack und 750 Euro in bar. Er wird am Ende das Zehnfache ausgeben. "Ich war verrückt", lautet sein Urteil mehr als ein Jahr später. Denn es wird eine Tour ins Ungewisse.

Fast war der Anfang das Ende

Dabei ist "Dobsche" große Wanderungen gewohnt: Als Jugendlicher läuft er das erste Mal durch Skandinavien, macht Touren durch Deutschland und durchläuft einmal sogar Polen von Ost nach West. Und trotzdem ist es gleich der Anfang seiner Pan-Europa-Wanderung, die ihn fast in die Knie zwingt. Schon auf dem Flug nach Mehamn, dem nördlichsten Flughafen Europas, ist klar, dass das Wetter dort oben in Norwegen höllisch sein würde: Minusgrade und extreme Windböen, die über die baumlosen Landschaft fegen. Dazu geht es die letzten 20 Kilometer zum nördlichsten Punkt des Kontinents, dem Kinnarodden, nur zu Fuß: 20 Stunden über mannshohe Felsbrocken. Einmal angekommen, macht der Braunschweiger sofort kehrt. Er bekommt eine Warnung per SMS: Das Wetter soll umschlagen. Und tatsächlich: Es wird wärmer, kleine Rinnsale werden zu reißenden Bächen. "Ich lief von Berg zu Berg, um durchzukommen", sagt "Dobsche". Er schafft es. Von da an kann alles nur besser werden.

Dosen-Erbsen statt Wildbret

Wochenlang stapft Dobrzewski durch die nördliche Tundra, überquert die Grenzen Finnlands und Schwedens und trifft kaum eine Menschenseele. Komisch wird ihm davon nicht. "Das habe ich ja gerade gesucht", sagt der Kurzzeit-Aussteiger. Da, wo andere einen Rappel kriegen, in der unberührten und menschenleeren Natur, ist er fasziniert. Nur wenn der Magen knurrt, zieht es ihn zum nächsten Supermarkt: Weißbrot und Dosen-Erbsen statt Beeren und Wildbret in Lagerfeuer-Romantik. Jagen ist eben auch in Europas letzter Ecke verboten. Und so läuft "Dobsche" schon einmal 200 Kilometer bis zum nächsten Schweden-Lidl, lädt dort sein Handy, steckt noch etwas Toilettenpapier ein. Dann geht die Wanderung weiter. "Ich war meistens froh, wieder im Wald zu sein", sagt er.

Ein Smartphone hilft beim Ausstieg

Denn zu Menschen hat er oft ein distanziertes Verhältnis: Nur 14 seiner mehreren Hundert Übernachtungen verbringt er irgendwo in einem Bett. Stattdessen wandert er oft nachts, sucht immer wieder die Einsamkeit. Zum Teil, weil wildes Campen in vielen Ländern verboten ist und er unentdeckt bleiben will. Aber auch, weil die Einsamkeit ihm etwas bringt: "Man fühlt sich klarer, je weniger Menschliches einen beeinflusst", sagt Dobsche. Selbst wenn das statt heißer Morgendusche im Hotel ein Bad im eiskalten Wald-See bedeutet - und Toilettengang mit Moos-Reinigung. Von Anfang an trägt er allerdings auch den Inbegriff moderner Zivilisation mit sich: ein Smartphone, mit dem er nicht nur regelmäßig in seinen Wander-Blog schreibt. Er nutzt es auch zum Fotografieren und zum Orientieren im Gelände als Ersatz für unhandliche Karten aus Papier. Und es ist sein Dolmetscher, wenn er mit seinem Schul-Englisch einmal doch nicht weiter kommt. Für den Extrem-Wanderer unbezahlbar: Mit Streetview schauen, wo er am besten über den nächsten Fluss kommt.

Spitzen-Handynetz in der Tundra

Aber Handy-Empfang mitten in der Tundra? "Oh ja", sagt "Dobsche", "der ist in Finnland beispielsweise sogar viel besser als in Deutschland." Für fünf Euro im Monat bekomme man da schon ein 3-G-Netz, für knapp 30 Euro eine Internet-Verbindung, die schneller sei als DSL. Und das flächendeckend. "Als ich später in Hamburg war, hatte ich dagegen oft Probleme mit dem Empfang. Das war kurios." Am Ende wird er zwischen Nord- und Südspitze Europas sieben verschiedene Mobilfunkverträge abgeschlossen haben und für seine 112.850 Fotos und Videos zwei Handys mit acht Speicherkarten brauchen. Und er wird noch mehr ausgeben: Allein acht Paar Schuhe gehen auf seiner Wanderung drauf. Die 750 Euro reichen nicht lang. Doch die Welt, der "Dobsche" zu entfliehen versuchte, kommt ihm auch zu Hilfe: Leser seines Blogs spenden ihm Geld, Freunde schenken ihm teils größere Summen.

Eichhörnchen sorgen für Nachbarschaftsstreit

Der Weg des Aussteigers kann weiter gehen. Eine Reise, auf der er viele Beobachtungen macht, die ihn manchmal selbst überraschen. Über die Menschen: dass sie zufriedener wirken, desto mehr Wald sie umgibt. Auch über die Tiere: dass Spinnen ganz angenehme Mitbewohner sind. Eichhörnchen etwa aber jeden, der in ihrem Revier zeltet, furchtbar beschimpfen und mit Geschossen bewerfen. Und je länger "Dobsche" unterwegs ist, desto mehr beobachtet er an sich Züge eines Philosophen: "Alles in Europa fließt wie Wasser nach unten", sagt er. Im Norden seien die Menschen und Tiere ruhiger, im Süden würden alle Wesen lauter und turbulenter und alles sei energievoller: "Da fangen sogar die Ameisen an, zu springen." Ganz weg von der Zivilisation kommt "Dobsche" während seiner monatelangen Wanderung nicht. Und ganz will er auch gar nicht. Schließlich, sagt er, möge er Menschen und sei an sich auch sehr kontaktfreudig: "Vor allem, wenn man lange niemandem zum Reden hat."

Weihnachten mit Dosen-Ravioli

"Dobsche" kurz nach seinem Sturz in Frankreich. © Kai Uwe Dobrzewski Foto: Kai Uwe Dobrzewski
"Dobsche" gefährlichste Situation kam nicht im Gebirge oder im Wald: Auf einer Straße in Frankreich fiel er hin und schlug sich ein Auge blutig.

In Norwegen trifft er so auf andere Europa-Wanderer, in Hamburg feiert und isst er zusammen mit Flüchtlingen in deren Unterkunft. Weihnachten verbringt er trotzdem allein in einem Wald in Belgien. Das Festtagsgericht: Ravioli aus der Dose. Einmal kommt die Welt ihm dann näher als ihm lieb ist: Er gerät in eine Treibjagd, aber sowohl Jäger als auch Hunde lassen ihn unbeachtet. Zusammenstöße gibt es sonst kaum. Ab und an halten ihn Polizisten an, aber die sind meist nur neugierig auf seine Geschichte. Die gefährlichste Situation erlebt er dann auch nicht im Gebirge oder im Urwald: Als "Dobsche" wochenlang über verregnete Wege läuft, fällt er an einer Straße in Frankreich einfach der Länge nach hin und schlägt sich dabei das linke Auge blutig. Der Bürgermeister eines kleinen Ortes hilft ihm, bringt ihn ins Krankenhaus. Wieder ist die Welt für den Aussteiger da.

"Europa ist wie ein Land"

Irgendwann, nach Wochen der Wanderung unter der unerbittlichen Sonne Spaniens, mehr als ein Jahr nach seinem Aufbruch, kommt er am Ziel an: Tarifa. Auf der anderen Seite, jenseits des Mittelmeeres, liegt Afrika - fast aberwitzig nah vor "Dobsche" Füßen. Der Braunschweiger hat es geschafft. Sein Fazit: "Europa ist unglaublich groß - man kann es kaum fassen!" Und er findet, dass alles politisches Gerede von mehr Nationalität gar keinen Sinn ergibt: "Es hängt doch alles zusammen", sagt "Dobsche". Im Norden sah er mehr Forstwirtschaft, in der Mitte Ackerbau und in Frankreich und Spanien Wein. "Das ist wie ein Land", findet der Extrem-Wanderer.

Nie wieder zurück in den alten Job

Heute, mehr als ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr, packt ihn öfter wieder das Fernweh. Vor allem das raue Nord-Skandinavien vermisst er sehr. Dass man überall das klare Wasser trinken könne und die Sonne nie wirklich untergeht. Das war sein Ding, da fühlte er sich als Mensch. Selbst wenn er nachts mit klatschnassen Klamotten frierend im Zelt lag. "Das war immer noch besser, als im Büro zu sitzen", sagt der Aussteiger, der längst wieder in der Zivilisation angekommen ist. Aber er ist ein neuer Mensch: selbstbewusster, mit mehr Freude am Leben. Und er will nie wieder in seinen alten Job zurück, sondern stattdessen etwas für die Gesellschaft tun: "Ich würde auch die Straße kehren, wenn ich von dem Geld leben kann", sagt "Dobsche". Doch seine nächsten Wanderungen packt er schon fest ins Auge. Wo er noch hin will? "Südamerika", sagt er, "und Nordamerika. Und dann noch in den Rest der Welt!"

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Braunschweig | 14.02.2017 | 17:00 Uhr

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