Dockville 2022: Verwunschene Kunstwelt zum Leben erweckt
Nach zweijähriger Coronapause hat das Musik- und Kunstfestival MS Dockville wieder stattgefunden. Auf 14 Bühnen sind mehr als 120 Acts am Hafen in Hamburg-Wilhelmsburg aufgetreten.
"Man muss die ganze Scheiße doch auch mal vergessen", sagt Leon. Er sitzt um fünf Uhr morgens auf einem grün angeleuchteten Baum und blickt etwas leer in eine unsichtbare Ferne. Dem Strudel der Weltkrisen entkomme er hier am besten, sagt er: "Es bleibt so lang dunkel, das ist das Gute an einem Festival im späten August." Und wirklich, im Hellen sieht das Dockville-Gelände trotz der zwei Jahre Zwangspause aus wie eine staubige Geisterbahn bei Putzlicht. Nachts verwandelt sich das Areal in eine verwunschene Kunstwelt aus Licht, Busch-Labyrinthen, Buden und kleinsten Verschlägen.
"Früher gab es das so nur bei der Fusion", erzählt Erwin mit den Luchsohren, der seit Jahrzehnten als Tontechniker Festivals betreut. "Heute ist überall Fusion." Er meint, die Urmutter der alternativen Festivals an der Müritz, die diese Abenteuerspielplatz-Festivalarchitektur geprägt hat. Es reicht nicht mehr, eine große Bühne auf die Wiese zu stellen und Bands einzuladen, die alle hören. Vielmehr gibt es in unzähligen Nischen Spezielles für jede Vorliebe.
Fachkräftemangel auch im Indiepop
Blitzumfrage: Wie viele der Künstler, die hier auftreten, kennt ihr? Die ganz Informierten nennen maximal 20 Prozent. Es ist schwer für ein mittleres Indiefestival wie das Dockville, im Jahr 2022 große Namen zu verpflichten. Die Gagen sind explodiert. Die Veranstaltungs-Fachkräfte in andere Berufe getrieben, jetzt noch die Inflation. Für ein paar große Namen reicht es: Der Schweizer Sänger Faber, mit seinen schmachtenden Rock-Chansons oder Annenmay Kantereit aus Köln, die einstige Straßenmusikkappelle, die heute zur Spitze des deutschen alternativen Pop gehört. Beide Acts stehen für Tiefe, Nachdenklichkeit und ja, auch eine gepflegte Schwermut.
Nach den Jahren ohne Shows und Festivals fehlt jetzt die zweite Reihe, die Durchstarter, von denen man schon mal gehört hat. Die Pandemie hat auch das Musikhören "vereinzelt". Die Algorithmen Streamen eine unendliche Vielfalt in einsame Ohren. Das spürt man beim Dockville. Immer wieder diese kleinsten Hip Hop Acts, die nur, eine versprengte, aber glückliche Schar vor die Bühnen locken. Der Unkundige könnte meinen, dass ihre Musik kaum unterscheidbar klänge.
Während Faber seine tröstlichen und schlauen Texte raunt, bellt und brüllt wenige Meter entfernt die Rap Crew "102 Boys" etwas von Adiletten. Ist das immer noch das gleiche Festival? Ja! Und es versucht möglichst vielen entgegenzukommen.
Hereinspaziert, wir erfüllen alle Wünsche!
Vasco aus Wien und Vivien aus Karlsruhe kommen jedes Jahr. Unabhängig davon, wer hier auftritt: "Hier kann man sein wie man will, auf anderen Festivals werden wir komisch angeschaut." Die beiden lieben Sportswear und verbringen das gesamte Wochenende in der Klüse. Ein kleiner Housefloor mit atemberaubendem Blick auf den Hafen. Was auf den Bühnen passiert interessiert sie kaum.
Lea und Louis hingegen, lassen sich von einer musikkundigen Freundin durch das Wochenende navigieren. Sie sind neugierig auf Neues. Das macht Festivalkonzerte für Musiker zur Herausforderung. Da müssen die Fans abgeholt werden, die alle Texte auswendig kennen, und die Laufkundschaft gilt es anzulocken und zu halten.
Zahlreiche individuelle Festivalerlebnisse
Tash Sultana, die Kinderzimmer-Produzentin aus Australien, löst dieses Dilemma mit einer chamäleonartig farbwechselnden Show: mal das Mädchen mit Bass, Gitarre und Loopmaschine, mal gewaltiges Beat- und Lichtgewitter. Da bleibt man dabei. Das Duo Ätna aus Dresden, kürzlich noch in einer artifiziellen Nische, macht seine Shows durch Showeinlagen aus einer schrägen Las Vegas Parodie groß für die Festivalbühne. Da schießen grüne Laserstrahlen aus Seidenhandschuhen, da springt ein Alien mit Discokugelkopf mit Sprungfeder über die Bühne. Da wird auf Sitzbällen zur Feedbackrunde gerufen. Auch wer die eher sperrigen Songs noch nie gehört hat, bleibt bei so einer Show hängen.
So entstehen wohl so viele individuell Festivalerlebnisse, wie das Dockville Besucher hat. Mitgrölen ist doch eh peinlich. Irgendwann, weit nach Mitternacht, geraten ohnehin alle in dieses seicht verschallerte Festivalgefühl. Wenn alles wie Watte wirkt und jeder mit jedem den schönsten Unsinn plaudert, und es ganz egal ist, welche Musik man gehört hat. Und Leon, der alles vergessen wollte? Er hat wohl alles gegeben: Kurzes Einnicken im Baumlabyrinth.